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Francesca Zuccari

Gemeinschaft Sant’Egidio, Italien
 biografie

Die Armen stellen für uns eine Anfrage dar. Der Titel dieses Panels stellt etwas als gegeben hin, was sich in Wirklichkeit ganz und gar nicht so verhält. Mein Vorschlag für den Titel würde lauten: Stellen die Armen eine Anfrage an uns dar? Sind ihre Fragen und ihr Leid tatsächlich eine Anfrage? Eine radikale Anfrage? Eine bedeutsame Anfrage? Ich möchte von einer Aussage Gregors des Großen ausgehen, der in einer Zeit einer großen Krise als Bischof in Rom lebte: "Die Armen zeigen sich uns auch auf störende Weise und stellen Fragen an uns." Er fügt hinzu: "Sie können für uns am Jüngsten Tag eintreten." Das stimmt und diese heutige Reflexion will darauf hinweisen. Die Armen stellen eine Anfrage dar und sie zeigen sich uns auf störende Weise. Ihre unbequeme Frage wird in einer Zeit gestellt, in der es andere Bedürfnisse zu geben scheint. Wir befinden uns in einer Krise. Es gibt keine Ressourcen, es gibt weder Raum noch Zeit, um über sie nachzudenken. Doch Gregor sagt, "sie könnten für uns eintreten am Jüngsten Tag." Das bedeutet, dass es sich nicht um ein Randthema handelt, sondern um eine zentrale, ultimative Fragestellung. Als Gläubige wissen wir das gut. Aber ich glaube, dass das persönliche und das gemeinschaftliche Heil davon abhängen, in welchem Maße und auf welche Weise die störenden Fragen der Armen in unserem persönlichen Leben Raum finden oder auch für unsere Entscheidungen und in der allgemeinen Politik berücksichtigt werden. Wenn wir ansonsten zum Beispiel die europäischen Verlautbarungen anschauen - ich beziehe mich dabei besonders auf die Agenda 2010 - ist dieser Anspruch in überraschend klarer Weise aufgenommen: Die Inklusion, die Solidarität, die Bekämpfung der Armut gehören zu den Säulen der europäischen Strategie der kommenden Jahre, um eine harte, anstrengende und lange Krise hinter uns zu lassen. Das bedeutet, dass man die Krise entweder gemeinsam - die Armen eingeschlossen - überwindet, oder man überwindet sie gar nicht.

In Europa leben 8% der Bevölkerung, also gut 40 Millionen Menschen, in großer materieller Armut -  trotz der Strategien zur Armutsbekämpfung, die seit Beginn des neuen Jahrhunderts weiterentwickelt wurden. Man muss sich fragen, ob es möglich sein wird, das ehrgeizige Ziel zu erreichen, die Anzahl der von Armut bedrohten Menschen um wenigstens 20 Millionen zu reduzieren, wie es die europäische Strategie bis 2020 vorsieht. Alarmierend ist, wie viele Menschen von Armut bedroht sind. 23% der Bevölkerung in Europa leben unter Bedingungen, die der Armutsgrenze sehr nahe kommen; sie laufen Gefahr, von der Armut aufgesogen zu werden.
Doch Zahlen und Statistiken helfen nicht immer beim Verständnis. In den Einrichtungen der Gemeinschaft Sant'Egidio sehen wir, wie Menschen mit schmerzvollen Geschichten und den Gesichtern der Armen von gestern vorbeikommen. Aber es sind auch viele Menschen darunter, die orientierungslos und bestürzt sind, die zum ersten Mal in einer Einrichtung um Hilfe bitte müssen. Hier kann man die Auswirkungen der Krise auf das Leben der Menschen mit den Händen greifen. Nicht ausreichende Renten, das unerfüllbare Recht auf eine Wohnung, ein Arbeitsplatz ohne feste Garantie, steigende Arbeitslosigkeit ohne wirksame Gegenmaßnahmen und steigende Ausgaben des Einzelnen im Gesundheitsbereich haben viele Menschen in die Armut abgleiten lassen.

Wir befinden uns vor einer neuen Herausforderung: Es geht nicht nur darum, die schwierigen Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern, die schon vom alten Phänomen der Not und der Marginalisierung betroffen waren. Man muss einen weiteren Sprung vollbringen. Heute scheint es mir dringlich, eine neue Art von "Widerstandsfront" zu schaffen, um zu verhindern, dass eine wachsende Anzahl von "fast" Armen die Grenze zur Not überschreitet, eine Grenze, hinter die man nicht mehr zurückgehen kann, wenn man sie erst einmal überschritten hat. Wir treffen immer öfter auf Menschen, die ihre familiären Bindungen verloren haben, zum Beispiel weil sie geschieden sind. Gleichzeitig haben sie auch ihre Arbeit verloren. Es sind Menschen, die sich nie an eine Hilfseinrichtung gewandt hätten, aber die aufgrund verschiedener unglücklicher Ereignisse, manchmal auch aufgrund einer Krankheit plötzlich alles brauchen und deren Zukunft sehr unsicher ist. Vor allem sind sie sehr einsam. Man muss sich konkrete Alternativen ausdenken und dabei auch andere Einrichtungen miteinbeziehen. Man muss diesen Menschen helfen, alle nur möglichen Mittel zu erhalten. Man muss aber auch feste menschliche Beziehungen um sie herum schaffen, die ihnen helfen, aus einer verzweifelten Situation hinsichtlich ihrer Zukunft herauszukommen.

Bei dieser kreativen und wertvollen Arbeit haben die Gläubigen als Freunde der Armen eine entscheidende Rolle. Sie stellen eine wichtige Ressource dar, eine "Rücklage" an Menschlichkeit und ein solidarisches Netz, die einen Damm bilden gegen ein Aufweichen der Ethik in unseren Gesellschaften. Wer die Armen kennt und sie frequentiert, den hat die Krise nicht unvorbereitet getroffen. Denn eine langjährige Erfahrung, eine Sensibilität und Sympathie für die Menschen, die gelebt und weitergegeben wird, Solidaritätsnetze und Unterstützung erlauben es, neue Fragen zu verstehen, aufzugreifen und Lösungen zu finden, auch wenn es scheint, dass man nichts tun kann. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schreibt in "Gemeinsames Leben": " Der erste Dienst, den einer dem andern in der Gemeinschaft schuldet, besteht darin, dass er ihn anhört. Wie die Liebe zu Gott damit beginnt, dass wir sein Wort hören, so ist es der Anfang der Liebe zum Bruder, dass wir lernen, auf ihn zu hören."
Zuhören, demjenigen Zeit zu widmen, der sich in Schwierigkeiten befindet, indem man die Energien vieler bündelt, immer eine Antwort suchen, auch wenn es manchmal nur eine Teilantwort ist, die vorhanden Ressourcen miteinander in Verbindung bringen, Einrichtungen anregen, ihren Beitrag zu leisten, Synergien herstellen, aber vor allem Hoffnung vermitteln: Das ist das Charisma der Gläubigen im Angesicht der Krise. Ich kann aufgrund meiner persönlichen Erfahrung sagen, dass diese Art, auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu schauen, dazu führt, wirksame Antworten zu finden und eine bessere Zukunft aufzubauen in vielen Situationen, auch wenn es scheint, dass es keine Mittel gibt.
Versuchen wir also, das Thema umzukehren. Kann die Armut uns nicht helfen, auf neue Weise auf unser persönliches Leben zu schauen, auf die Welt, in der wir leben, auf unsere Beziehungen, selbst auf die Wirtschaft? Kann sie uns nicht helfen, das in den Mittelpunkt zu stellen, was wirklich zählt im Leben?
Wir können versuchen, die Armut zu messen, zu beschreiben, zu verstehen, aber darum geht es nicht. Die Armut ist auch ein Geheimnis: Sie betrifft das Wesen des Menschseins selbst. Sie ist der Urgrund eines jeden Menschen, insofern er schwach, begrenzt und dem Tod ausgesetzt ist. Es gibt eine tiefe Wahrheit des Menschseins: Kein Mensch genügt sich selbst, jeder braucht zum Leben einen ihm Ähnlichen, ein anderes Geschöpf. Nach dem Tod von Kardinal Martini wurde ein Gedanke über die Lebensalter, der ihm wertvoll war, wieder aufgegriffen: Im vierten Lebensabschnitt, dem Alter, lernt man zu betteln.

Die Armut ist also eine Charakteristik des Menschseins selbst, auch wenn man sie verstecken will. In diesem Sinn sind die Armen von Gott besonders geliebt. Nicht nur, weil sie Unrecht erfahren haben, sondern auch, weil sie keine Kategorie darstellen, sondern die Wahrheit über den Menschen, wie Gott ihn erschaffen hat.
Turoldo spricht mit seiner starken und poetischen Sprache von der Prophetie der Armut. Er sagt damit etwas Wichtiges: "Die Armen und die Armut sind eine Prophetie Gottes für die Lösung des Lebensproblems aller."
Die Armen sind eine Prophetie in der Geschichte, denn sie verkörpern den Menschen, wie er wirklich ist. Sie sind stille Propheten, weil sie mit ihrem Leben die Notwendigkeit aufzeigen, die Welt zu verändern, und mit ihrer Bedürftigkeit verdeutlichen, dass niemand sich selbst retten kann. Die Armut zeigt, was unserem Zusammenleben fehlt. Sie ruft unseren inneren Blick dazu auf, über die Befriedigung unserer persönlichen und materiellen Bedürfnisse hinauszuschauen. Sie entfacht Gefühle des Mitleids, sie treibt unser Herz zur Liebe - nicht nur für sich selbst. In den dunklen Momenten der Geschichte hat die Aufmerksamkeit auf die Armen und die Verbindung zu ihnen einen Schutz für die Kultur der Menschlichkeit dargestellt. Zum Beispiel hat sie in einer Zeit, in der alles Markt geworden ist, dazu geführt, dass der Wert der Unentgeltlichkeit nicht verloren geht. In einer materialistischen Mentalität, in der nur das einen Wert hat, was man kaufen und verkaufen kann, sind die Räume des Unentgeltlichen (Familie, Solidarität) zerbrechlich und eingeengt, während sie eigentlich den grundlegenden Raum des menschlichen Lebens bilden.

Die Unentgeltlichkeit hebt das gnadenlose Gesetz des Gebens und Habens aus den Angeln, dem die Armen unterliegen, aber nicht nur sie. Sie führt die Liebe für den Menschen als solche wieder in die Geschichte ein und stellt die Idee vom Glück, das im Besitz gesehen wird, auf den Kopf.
Die Welt wird ihre Probleme nicht lösen können, wenn sie es nicht mit den Armen versucht und von den Armen ausgeht. Davon spricht auch Jonathan Sacks in seiner Arbeit  "Die Würde der Verschiedenheit": "Die Kulturen überleben nicht durch ihre Stärke, sondern durch die Art und Weise, wie sie auf die Schwäche reagieren; nicht mit ihrem Reichtum, sondern mit der Aufmerksamkeit den Armen gegenüber." Ich habe meinen Vortrag mit Gregor dem Großen begonnen, ich ende, indem ich seine Einladung aufgreife: "Lasst euch nicht die Gelegenheit entgehen, barmherzig zu handeln", und unterlasst es nicht, auf die Heilmittel zurückzugreifen, über die ihr verfügen könnt".