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Felix Genn

Katholischer Bischof von Münster
 biografie

Ez 33,7-9;
Röm 13,8-10;
Mt 18,15-20.

 

Verehrte, liebe Gäste,
liebe Schwestern und Brüder, 

„Wege des Friedens“ – Unter diesem Stichwort stehen die gemeinsamen Tage, die wir in Münster und Osnabrück begehen. Was bedeutet dieses Leitwort? Soll es darum gehen, „Wege des Friedens“ zu suchen und zu finden? Oder sollen wir aufgefordert werden, gemeinsam „Wege des Friedens“ zu gehen? Soll am Ende dieser Tage ein Programm zusammengestellt werden, wie in unserer Welt in der derzeitigen Situation die „Wege des Friedens“ aussehen und konkret geformt werden?

Wahrscheinlich wird von allem die Rede sein, so dass die Thematik bewusst offen gelassen ist. Es geht einfach darum, sich auf dieses Wort einzulassen, „Wege des Friedens“. Die Verantwort¬lichen der Gemeinschaft Sant‘ Egidio, die uns Bischöfe von Münster und Osnabrück motiviert haben, in diesem Jahr ein solches Treffen in unseren beiden Städten zu veranstalten, haben Erfahrung mit diesem Wort; denn um nichts anderes geht es der Gemeinschaft Sant‘ Egidio, seit vielen Jahrzehnten, unermüdlich sich einzusetzen für „Wege des Friedens“. Es berührt mich sehr, dass Sie, liebe Brüder und Schwestern von der Gemeinschaft, bei diesem Engagement in diesem Jahr den Blick auf Münster und Osnabrück gerichtet haben. Im Jahr, in dem der Reformation in besonderer Weise gedacht wird, haben Sie in Ihre Überlegungen auch ein Faktum einge¬schlossen, dass dieses Ereignis aus dem Jahr 1517 große Entwicklungen und Verwerfungen in Europa ausgelöst hat, die von 1618 an zu einer dreißigjährigen kriegerischen Auseinandersetzung führten. Wie lange hat es gebraucht, „Wege zum Frieden“ zu finden!

Die Geschichte der beiden Städte Osnabrück und Münster erzählt uns, wie viele Wege die Gesandten der einzelnen Völker und Regierungen auf sich genommen haben, um in zähen Verhandlungen schließlich 1648 dem furchtbaren Kriegstreiben ein Ende zu setzen. Der Friede von Osnabrück und Münster hat die europäische Landschaft verändert, neu gestaltet, vor allem aber dazu beigetragen, dass die christlichen Konfessionen, die nicht mehr zusammenfinden konnten, wenigstens in Eintracht und Frieden ein neues Miteinander suchten. 370 Jahre später dürfen wir mit Dankbarkeit feststellen, dass die Zeit sich gewandelt hat, weil nicht mehr Abgrenzung und Misstrauen im Vordergrund stehen, sondern Respekt, Toleranz und gegenseitiges Wohlwollen, gemeinsames Handeln und Beten prägen. Wir danken Ihnen, liebe Schwestern und Brüder aus der Gemeinschaft Sant‘ Egidio, dass Sie in diesem Jahr beim Weltfriedenstreffen diesen Akzent aufgreifen und mithelfen, dem Gedächtnis der Reformation einen internationalen, interkonfessionellen und interreligiösen Akzent zu geben. 

Liebe Schwestern und Brüder, „Wege des Friedens“ – wenn wir dieses Leitwort unserer Begegnung auf die Texte hin lesen, die die Kirche an diesem Sonntag überall auf der Welt aus dem großen Reichtum der Heiligen Schrift ausgewählt hat, so können wir geradezu von Fügung sprechen: Unmittelbarer als diese Texte kann man eigentlich nicht von den „Wegen des Friedens“ sprechen. Inhalt und Auswahl der Texte scheinen wie für unser Treffen ausgewählt zu sein. Dabei ist das Wort des Apostels Paulus zentral: „Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer“ (Röm 13,8). Besser können wir gar nicht von „Wegen des Friedens“ sprechen als so: „Bleibt niemand etwas schuldig; nur die Liebe schuldet ihr einander immer“. Der Apostel unterscheidet hier nicht zwischen Christen, Juden und Heiden, Glaubenden und Nicht-Glaubenden: Niemandem bleibt etwas schuldig; nur die Liebe – und die schulden wir einander immer. 

Ja, ich möchte sagen, dass der Apostel uns hier darauf hinweist, „dass der Nächste uns gegen¬über das Recht auf Liebe besitzt, das Recht auf unsere Zuneigung“ , wie es unser Mitbruder Vincenzo so wunderbar formuliert hat. Dem Apostel geht es darum, die Erfüllung des Gesetzes zu beschreiben. Aber das geschieht genau in der Liebe. Man kann das Gesetz, ebenso alle Normen, alle Werte, alle Vorschriften für unser mensch¬liches Zusammenleben nur erfüllen, wenn wir im Nächsten, im Mitmenschen, im Anderen den erkennen, dem wir unsere Liebe schulden. Das ist der Kern des Christlichen, der Kern aber auch jedes humanistischen Denkens. Wenn jemand in der Tiefe seines Herzens davon überzeugt ist, und wenn er dieser Überzeugung sein Leben gibt, ist er auf dem Weg des Friedens.

Von diesem Kernwort des Apostels aus können wir in den beiden anderen Texten der Heiligen Schrift Konkretionen sehen und dabei spüren, wie tief der Apostel das Evangelium Jesu Christi in seiner Verkündigung aufgenommen hat. Was uns Jesus nämlich nach dem Wortlaut des Matthäus-Evan¬geliums vorlegt, ist ebenfalls ein „Weg des Friedens“. Er setzt sich mit der Frage auseinander, wie es am friedvollsten in der Gemeinde zugeht. Dabei ist er völlig realistisch, weil er um die Macht des Bösen weiß; und wir wissen es auch. Aber handeln wir dabei dem Beispiel Jesu gemäß? Ein konkreter Ausdruck der Liebe und eine konkrete Gestalt des Friedens zeigt sich genau darin: „Wenn dein Bruder und deine Schwester sündigen, dann geh zu ihm und zu ihr und weise sie unter vier Augen zurecht“ (Mt 18,15). 

Zurechtweisung des anderen, die brüderliche Korrektur, sind Ausdrucksformen, um das Böse in der Gemeinde zu verhindern und dem Frieden Raum zu geben. Schließlich wissen wir alle, wie sehr das Böse in seiner vielfältigen Form, wie sehr unser hartnäckiger Egoismus, unser Anspruchsdenken und vieles mehr, das Pochen auf das eigene Ich und die eigenen Ansprüche, die „Wege zum Frieden“ und zueinander blockieren. Die Liebe einander zu schulden kann ganz konkret bedeuten, dem anderen zu zeigen, wie er vom Bösen ablassen kann, mit ihm zu ringen darum, dass er wieder in die Spur der Liebe kommt. Die Gemeindeordnung, die uns Matthäus überliefert, zeigt sehr deutlich, dass es mit dem Gespräch unter vier Augen nicht genügen kann, so dass es eine Schrittfolge gibt, wie der andere den rechten Weg zurück findet. 

Freilich, liebe Schwestern und Brüder, zeigt sich auch die Grenze: Es kann sich jemand verweigern. Unser Text aus dem Matthäus-Evangelium greift durchaus zurück auf das, was uns der Prophet Ezechiel verkündet hat. Schon zu seiner Zeit hat er diese Regel des Umgangs miteinander dem Volk Israel vorgelegt. Dabei wird er sehr deutlich: Verweigerung, sich korrigieren zu lassen, hat zerstörerischen Charakter. Es geht nämlich nicht einfach bloß darum – bei Ezechiel wie bei der christlichen Gemeinde -, sich dem anderen als Hilfe zu einem besseren Leben anzubieten, sondern es geht um die Ordnung Gottes. So kann Gott durch den Propheten ausdrücklich sagen: „Wenn du ein Wort aus meinem Mund hörst, musst du sie vor mir warnen“ (Ez 33,7). Mit dem Wort Gottes den anderen zu korrigieren, ist also nicht zu spaßen. Auf der Suche nach den „Wegen des Friedens“ kann es todernst sein. 

Und doch, selbst wenn es todernst ist, gebietet die Liebe den Respekt, den anderen, der sich verweigert, nicht zu zwingen, selbst wenn es schmerzlich ist. Urs von Balthasar hat einmal schön gesagt: „Die Pflicht wird sehr ernsthaft eingeschärft, aber dass sie Erfolg hat, gehört nicht zur Verheißung Gottes.“  

Auch wir, liebe Schwestern und Brüder, werden bei unserer Suche nach den „Wegen des Friedens“ solche Erfahrungen machen: Wir brauchen nicht dabei stehen zu bleiben, weil Matthäus uns noch eine Hilfe in die Hand gibt, die wir in diesen Tagen ebenfalls aufgreifen wollen: Das gemeinsame Gebet, im Namen des Herrn. Warum sollten wir nicht genau dann, wenn sich jemand verweigert, auf dieses Wort des Herrn zurückkommen und zurückgreifen: „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 19-20)?

„Wege des Friedens“ – ein interkonfessionelles und interreligiöses Treffen in einer Zeit, die geprägt ist von der Auseinandersetzung zwischen Völkern und mit Gruppen, die Religion in Verbindung mit Gewalt bringen – das ist genau unser Thema! Deshalb ist es so wichtig, auch auf Zeugen zu schauen, die uns bekunden, wie solche Wege gegangen werden können, selbst wenn sie an die Todesgrenze führen. In den letzten Wochen habe ich mich mit der Gestalt des Priors der Mönche von Tibhirine befasst. Christian de Chergé hat seine Berufung zum Mönchtum auch dadurch gefunden, dass er im Algerien-Krieg einem tiefgläubigen Muslim begegnet ist, der den Namen Mohammed trug, Familienvater war, älter als er, mit dem er eine tiefe Freundschaft geschlossen hat. Während eines Gefechtes stellte sich dieser gläubige Muslim schützend vor den katholischen Christen. Am anderen Tag wurde er ermordet aufgefunden. Christian hat darüber Folgendes geschrieben: „Durch das Blut dieses Freundes habe ich erkannt, dass ich meinen Ruf in die Nachfolge Christi früher oder später in dem Land verwirklichen sollte, wo mir der größte Liebesbeweis zuteil wurde“.  Umgekehrt wird Jahre später Christian mit seinen Mitbrüdern sein Leben für dieses Land geben: „Die Liebe schuldet ihr einander immer“, Christen untereinander, Christen und Muslime, Muslime und alle anderen, denen wir als Schwestern und Brüder, verbunden durch die Verbindung, die religio, mit Gott, die nicht in Gewalt verwirklicht wird, sondern durch die gewaltlose Liebe. 

Und wir als katholische Christen feiern diese gewaltlose Liebe jetzt in der Eucharistie. Wir lassen uns durch die Gestalt von Brot und Wein stärken, wir geben so das Zeugnis weiter, das der Herr selbst uns gegeben hat: Er ist uns nämlich nichts schuldig geblieben, weil Er die Liebe bis zuletzt gelebt hat.

Amen.