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Manfred Lütz

Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses Köln, Deutschland
 biografie
Ich bin hier dazugebeten worden, weil ich mich verstärkt mit dem Thema eines menschenwürdigen Lebens und eines menschenwürdigen Sterbens befasst habe. Erzbischof Paglia hat zu diesem Thema ein sehr interessantes Buch verfasst, für dessen deutsche Übersetzung ich das Vorwort geschrieben habe und das heute hier erstmals der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wird. Doch ich will nicht bloß über dieses berührende Buch reden, sondern über die Grundfragen, die sich hier stellen. 
 
Schon lange beobachte ich, dass wir inzwischen in einer Gesundheitsgesellschaft leben. Viele Menschen glauben nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit und alles, was man früher für den lieben Gott tat, wie Wallfahren, Fasten und gute Werke vollbringen, das tut man heute für die Gesundheit. Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr richtig, sondern die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist leider definitiv tot. Die unbändige Sehnsucht der Menschen nach Ewigen Leben und Ewiger Glückseligkeit ist ungebrochen, aber sie spielt sich heute oft nicht mehr in den klassischen Religionen, sondern in Medizin und Psychotherapie ab. Bei Nichterfüllung: Klage, versteht sich. Gesundheit gilt allenthalben als höchstes Gut und zugleich als herstellbares Produkt: Man muss etwas tun für die Gesundheit, von nichts kommt nichts, wer stirbt, ist selber schuld. Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres – und sterben dann doch. Die Sakralisierung der Gesundheit und zugleich ihre Unerreichbarkeit sind aber ökonomisch höchst attraktiv. Ein erreichbares Ziel ist wirtschaftlich uninteressant. So hat die überholte utopische Definition der Weltgesundheitsorganisation aus den 50-er Jahren, Gesundheit sei „völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“ unabsichtlich mit beigetragen zu dem grenzenlosen Gesundheits-Hype, der immer noch anhält. Dagegen hat Friedrich Nietzsche pragmatisch definiert: „Gesundheit ist dasjenige  Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen“. Und Gesundheit ist zwar ein hohes Gut, doch keineswegs das höchste.
 
Man mag den herrschenden Gesundheitswahnsinn für unfreiwillig komisch halten oder für den Exzess einer exzessiven Gesellschaft. Doch hat die weitgehend unwidersprochen herrschende Gesundheitsreligion sehr ernste ethische Konsequenzen. Wenn nämlich der gesunde, leistungsfähige, erfolgreiche Mensch der eigentliche Mensch ist, dann ist der kranke, vor allem der unheilbar kranke, der behinderte Mensch ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. „Hauptsache gesund“ ist ein gedankenloser üblicher Kommentar, wenn jemand erzählt, er habe ein Kind bekommen. Eine 32-jährige junge Frau schrieb mir, sie habe seit Geburt einen schweren Herzfehler, an dem sie schon 6 Mal operiert worden sei, die These, Gesundheit sei die Hauptsache, sei für sie eine diskriminierende Frechheit. Dann hätte sie ja nie die Hauptsache des Lebens gehabt, aber sie liebe jeden Tag ihres Lebens, sie liebe auch ihre Kinder – von denen die Ärzte ihr wegen ihres Herzfehlers abgeraten hätten. Doch die milliardenschwere Gesundheitsindustrie lebt einerseits formal von der religiösen Verklärung des Gesundheitsbegriffs, andererseits inhaltlich von seiner utopischen Unerreichbarkeit, wodurch niemand wirklich ganz sicher sein kann, ob er tatsächlich gesund ist. „Gesund ist eine Person, die nicht ausreichend untersucht wurde“, unkte einmal ein berühmter Internist. Schon was die psychische Gesundheit betrifft, traue ich mir als Psychiater und Psychotherapeut zu, durch ein 20-minütiges Gespräch über Ihre frühe Kindheit eine kleine Depression bei Ihnen auszulösen – egal wie die frühe Kindheit verlaufen ist. 
 
Ein weiteres Problem ist die grassierende Casting-Mentalität. Schon Jugendliche werden darauf getrimmt, dass Leistung und Erfolg entscheidend für ein gelingendes Leben sei. Dabei ist das völliger Unsinn. Als wir zur Feier des Endes der Pubertät unserer beiden Töchter ein großes Fest gegeben haben, hatte ich als Vater ein paar Worte zu sagen. Da habe ich unsere Freude über unsere Töchter zum Ausdruck gebracht, über ihre Liebe zu den Menschen, über ihr soziales Engagement und ich habe ihnen Glück und Gottes Segen für ihr Leben gewünscht – aber ausdrücklich keinen Erfolg. Denn Erfolg ist nicht wichtig im Leben. Man soll vielmehr die Fähigkeiten, die der liebe Gott einem gegeben hat, fleißig einsetzen, doch ob man damit dann Erfolg hat, das hängt von so vielen Zufällen ab, das ist nicht wirklich wichtig im Leben. Junge Menschen werden heute systematisch unglücklich gemacht, indem sie angehalten werden, sich andauernd mit anderen Menschen zu vergleichen, die andere Fähigkeiten haben als sie selbst, deswegen heißten sie ja die anderen. Und in Amerika herrscht zur Zeit ein Präsident, dem man wohl beigebracht hat, dass Erfolg alles ist, selbst wenn man keine Fähigkeiten besitzt.
 
Das Christentum ist geradezu das Gegenbild zur Gesundheitsreligion und zum Leistungs- und Erfolgskult unserer Tage. Für die Christen waren nicht die starken, die gesunden, die leistungsfähigen die maßgeblichen Menschen, sondern die Armen, die Notleidenden, die Kranken, die Alten und die Schwachen. Das war damals etwas völlig Neues. Das Christentum hat das Mitleid erfunden. Die antiken Heiden kannten kein Mitleid. Wer behindert oder gebrechlich war, den liebten die Götter nicht und es war daher nicht gut, sich allzu sehr mit ihm zu befassen, um nicht auch noch vom Schicksal geschlagen zu werden. Behinderte werden auch heute noch in vielen Kulturen von ihren Familien schamhaft versteckt. Dabei kann Behinderung auch eine Fähigkeit sein. Ich habe vor 35 Jahren in Bonn eine Gruppe von behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen ohne professionelle Betreuer gegründet, die noch heute besteht und da habe ich erlebt, dass viele meiner geistig behinderten Freunde mehr echte menschliche Herzlichkeit besitzen als wir Normopathen. Auch die Gemeinschaft Sant’Egidio hat diese Erfahrungen gemacht und meine Gruppe hat in Rom mehrfach deren erfolgreiche Behinderten-Initiativen kennenlernen können. Unmündige Kinder, die gar nichts „leisten“, können das Glück einer Familie sein und erfüllen ihre Umgebung überall mit Freude, sicher nicht immer, aber doch zumeist. Auch alte Menschen, die längst nicht mehr im Arbeitsprozess stehen, können mit ihrer Lebensweisheit ihre Mitmenschen zutiefst bereichern. Denn sie wissen mehr vom Leben als jeder gut ausgebildete junge Psychotherapeut. Und manche Menschen, die an Demenz erkranken, werden dann erheblich liebenswürdiger als sie es in gesunden Zeiten waren. Damit soll das Leid, das in all diesen Zuständen auch eintritt, nicht geleugnet oder überspielt werden, aber dies Leid ist eben nicht alles und Leid ist ohnehin unvermeidlich im Leben jedes Menschen. Der Auschwitzüberlebende Jehuda Bacon, mit dem ich ein Buch gemacht habe, hat mich gelehrt, dass man auch im Leid Sinn erleben kann.
 
Der widerlichste, der rücksichtsloseste, der menschenverachtendste Satz, den ich kenne, ist der Satz: „Ich möchte eines Tages nicht auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sein.“ Er klingt so ganz harmlos, aber während jemand das sagt, meint er selbst ja, nicht auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein, doch gleichzeitig braucht der demenzkranke Nachbar Hilfe, die behinderte Nichte, das kleine Kind der Freunde und er will nicht sein wie die. Und in Wahrheit ist dieser Satz auch kompletter Unsinn, denn jeder Mensch ist auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Wir könnten uns hier gar nicht treffen, wenn es nicht Menschen gäbe, die Stühle anfertigen, auf denen wir sitzen können etc. Jeder Mensch ist auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen, am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens etwas mehr und in der Zeit dazwischen können wir ein bisschen den Menschen am Anfang und am Ende helfen. Das ist der Kern von Menschlichkeit. Der Mensch ist ein soziales Wesen. 
 
Gregor Gysi, der langjährige Vorsitzende der Linken in Deutschland hat in der evangelischen Akademie in Tutzing gesagt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne, Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Und deswegen war es kein Wunder, dass es auch Vertreter der Linken waren, die im Deutschen Bundestag gegen die gesetzliche Ermöglichung des ärztlich assistierten Suizids eintraten. Denn wenn eine Gesellschaft ihren leidenden Mitgliedern nicht mehr Mitleid, Beistand und Hilfe leistet, sondern sie drängt, den Ausgang zu wählen, um niemandem mehr zur Last zu fallen, dann wäre es bloß zynisch, das für Selbstbestimmung zu erklären. Es würde eiskalt in einer Gesellschaft, die nicht mehr alles daran setzt das Leid, sondern den Leidenden abzuschaffen. Wenn es eine gesetzliche Regelung für den ärztlich assistierten Suizid gäbe, der jetzt sozusagen ganz normal „angeboten“ würde, dann würde es letztlich für den alten oder kranken oder behinderten Angehörigen sozusagen wie eine moralische Pflicht wirken, den Suizid zu wählen, um den anderen nicht mehr zur Last zu fallen. 
 
Der agnostische Philosoph Jürgen Habermas hat, um den Menschenwürdebegriff, den zentralen Begriff unserer Gesellschaftsordnung, zu fundieren, gesagt, dass es „rettender Übersetzungen“ der jüdisch-christlichen Begrifflichkeit von der Gottebenbildlichkeit des Menschen bedürfe. Tatsächlich gibt es keinen hinreichenden säkularen Grund, warum ausgerechnet der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ niemals geändert werden darf. Selbst das Parlament darf nicht darüber bestimmen. Und ebenso kommt Selbstbestimmung da an ihre Grenze, wo das Selbst, das sich da bestimmen will, bestimmt, dieses Selbst zu vernichten. Die Vernichtung seiner selbst ist kein Akt der Selbstbestimmung. Deswegen dürfen wir einen solchen Akt niemandem zumuten und wir dürfen es auch nicht gleichgültig hinnehmen, wenn neben uns ein leidender Mensch sein eigenes Leben für lebensunwert erklärt. Nach Auffassung unseres Grundgesetzes gibt es kein lebensunwertes Leben und nach christlicher Auffassung ist Gott der Herr des Lebens und nicht der Mensch. Deswegen sind wir Christen auch gegen die Todesstrafe, was gerade Sant’Egidio mit recht immer wieder zum Thema macht.
 
Wir dürfen aber nicht bloß bei solchen Debatten stehenbleiben. Wir müssen den Alten, den Leidenden und Sterbenden als Christen existentiell nahe sein. Das betont immer wieder Papst Franziskus. Und deswegen ist das Buch von Erzbischof  Paglia so wichtig, weil es aus reicher seelsorglicher Erfahrung mit solchen Menschen die christliche Botschaft anfassbar macht. Die Gemeinschaft von Sant’Egidio hat seit ihren Anfängen die alte christliche Sorge um die Menschen am Rande unserer Gesellschaft und nicht bloß am Rande der Städte in den Mittelpunkt gerückt. Während die Gesundheitsgesellschaft Alte und Behinderte abwertet, hat die Gemeinschaft Sant’Egidio sie mit besonderer Liebe umsorgt. Wenn die Leistungsgesellschaft Demenzkranke als nutzlose Last behandelt, so dass schon die Diagnose einer beginnenden Demenz für viele Menschen ein Horror ist, so geht man mit solchen Menschen bei Sant’Egidio respekt- und würdevoll um. Es ist auch einfach nicht wahr, dass Demenzkrankheit in jedem Fall eine Katastrophe ist. Es gibt Demenzkranke, die ihr Leben durchaus genießen und wo es übrigens dann die Angehörigen manchmal schwerer haben als die Demenzkranken selber. Man darf jedenfalls nicht immer nur in Negativbegriffen über Demenz reden. Ich habe neulich bei einer Talkshow im Fernsehen gesagt: Ich freue mich, wenn ich dement werde. Dann habe ich all den Mist vergessen und nette Menschen, die mir helfen. Ich habe mich aber das – zugegeben – nur getraut, nachdem ich meine Angehörigen gefragt habe, ob ich das so sagen darf, denn die haben dann ja die Arbeit mit mir...
 
Und auch was das Sterben betrifft reicht es jedenfalls nicht, wenn wir Christen bloß theoretisch gegen Euthanasie und ärztlich assistierten Suizid streiten, wir müssen auch praktisch helfen. Ich war befreundet mit dem Gründer des ersten deutschen Hospizes, Dr. Türks in Aachen, und der hat schon damals eine Erfahrung gemacht, die seitdem alle in diesem Bereich Tätigen bestätigen: Wenn ein Mensch anfänglich um Tötung bat, er dann aber echte Zuwendung, Anteilnahme und Hilfe, aber auch gute Schmerztherapie und palliative Pflege erhält, dann habe er keinen einzigen Fall erlebt, wo der Wunsch nach Tötung sich nicht wandelte in einen Wunsch danach, gut begleitet an der Hand und nicht durch die Hand eines Menschen sterben zu können.