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Christian Troll

Theologe, Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen, Deutschland
 biografie

Innerhalb weniger Jahrzehnte sind die Muslime zur zweitgrößtem religiösen Gruppe

in Europa geworden. Damit kommt dem Islam mit bis zu 20 Millionen Anhängern allein in den jetzigen Ländern der Europäischen Union ein enormes Gewicht unter den Religionen des Kontinents zu. Ich werde hier ein paar ausgewählte  ̶  im weitesten Sinn politische  ̶  Gedanken zu der Frage vorlegen, was sich für die Christen als Christen aus dieser relativ neuen Konstellation ergibt. Die neue Präsenz der Muslime in Europa betrifft sie sowohl in ihrer Eigenschaft als alteingesessene Bürger Europas (wobei die signifikante Anzahl von Christen nicht vergessen werden sollte, die in den letzten Jahrzehnten aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika nach Europa eingewandert sind die und das Leben der christlichen Gemeinden spürbar mitbestimmen) als auch – jedenfalls einen Teil von ihnen – als Menschen, die sich weiterhin, in verschiedenen Graden der Intensität, vom christlichen Glauben und Weltbild geprägt und herausgefordert wissen.

Die Christen sind als Mitbürger verpflichtet  ̶  und außerdem von Ihren Glauben her motiviert  ̶   ,nach den Maßgaben der Gerechtigkeit und bemüht um Verstehen und Einfühlungsvermögen, mit den Muslimen als „neuen“ Mitbürgern innerhalb der pluralistisch angelegten europäischen Demokratien zu leben. An welche Maßgaben denken wir hier vor allem?

1   Die doppelte Verpflichtung zur positiven Akzeptanz 

Die Christen wissen sich sozusagen doppelt, sowohl von den unmissverständlichen

Aussagen ihrer Kirchen als auch von den Verfassungen ihrer jeweiligen

Nationen her, aufgefordert selbstkritisch zu fragen, ob sie wirklich das Ihre tun, damit den Muslimen auf individueller und korporativer Ebene in der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfährt.

Wird den Muslimen als neu Hinzugekommenen ehrlich, effektiv und kreativ,

geholfen, innerhalb der religiösen Vielfalt unserer europäischen Gesellschaften, den

Platz einzunehmen, der ihnen heute an der Seite der christlichen Kirchen und der

jüdischen Gemeinschaften zukommt? Die Muslime sind unsere Nachbarn, unsere Kollegen bei der Arbeit; sie sind möglicherweise Mitglied der gleichen politischen Partei wie wir. Ihre Kinder besuchen zusammen mit den anderen Kindern Kindergarten, Schule und Universität. Sie organisieren sich auf mannigfaltige Weise, z.B. in Altersheimen, Sportvereinen, wirtschaftlich oder allgemein beruflich ausgerichteten Vereinigungen und Institutionen, im Erziehungswesen auf allen Ebenen. Sie bauen Moscheezentren und beginnen so das Bild der Groß- und Kleinstädte mitzugestalten und gar zu verändern. In all diesen Bereichen agieren sie als gleichberechtige Mitbürger. Sie wollen in den mainstream des politischen und öffentlichen Lebens eintreten und ungeschmälert von den finanziellen und rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen, die den Kirchen und jüdischen Gemeinden schon zur Verfügung stehen.

Es ist wichtig, dass Christen, als einzelne wie auch als Gemeinschaften, all die von der Verfassung her gerechtfertigten Forderungen der Muslime aktiv unterstützen und so dazu beitragen, dass die Muslime wirklich gleichgestellte und gleichberechtigte Partner in den europäischen Gesellschaften werden. Denn: Es gibt rechtlich ganz und gar unbedenkliche muslimische Forderungen, die nicht selten auch bei Christen auf Unverständnis oder Widerstand stoßen. 

2  Der Geist toleranter Religionsauffassung auf beiden Seiten

Allerdings sind die Christen und Bürger ebenfalls aufgerufen, aufgrund solider Information und kluger Unterscheidung auszumachen, wo gewisse muslimische Gruppen offen oder indirekt im Namen des Islams und des vermeintlichen Freiheitsrahmens der deutschen Verfassung einer Mentalität und Praxis des Islams Vorschub leisten, die dem Geist der Verfassung und damit auch dem Geist toleranter islamischer Religionsauffassung widersprechen und diesen somit untergraben. Freiheiten dürfen nicht nur eingefordert, sie müssen sowohl nach innen wie auch nach außen gewährt werden. Ferner findet die eigene Freiheit ihre Grenzen an der Freiheit der anderen.

Ein zukunftsträchtiges Zusammenleben in Verschiedenheit kann nicht gelingen, ohne

dass auf beiden Seiten, derjenigen der Mehrheitsgesellschaft und ihrer Komponenten sowie derjenigen der muslimischen Minderheiten, bestimmte Grundhaltungen und Grundüberzeugungen als allgemein bindende und verpflichtende Ideale und Ziele anerkannt werden. Im Übrigen gibt es kein überzeugenderes Argument für die Glaubwürdigkeit der Christen als Zeugen der Botschaft Jesu Christi als ihr individuell und korporativ selbstloser Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in kultureller und religiöser Verschiedenheit, innerhalb der europäischen Verfassungsordnungen. Somit sind die Christen Europas, als einzelne sowie als Gruppen und Gemeinschaften gefragt, die Veränderungen wahrzunehmen und anzuerkennen, die die relativ plötzliche Einpflanzung von muslimischen Gemeinschaften in vielen Teilen des Kontinents hervorgerufen hat.

Das wachsende statistische Gewicht der muslimischen Bevölkerungen, die Tatsache,

dass die Muslime in einigen Großstädten bzw. Stadtregionen West Europas

heute schon Mehrheiten darstellen oder jedenfalls sehr bald darstellen werden, und

dass sie in nicht wenigen staatlichen Erziehungsinstitutionen – etwa in Kindergärten

und Schulen – schon mehrheitlich vertreten sind, muss gerade auch von den christlichen Mitbürgern als schlichte Gegebenheit gesehen, mit einem offenen Herzen angenommen sowie mit einer positiven, gute und gangbare Lösungen suchenden Einstellung beantwortet werden. 

3   Das historische Erbe Europas kennen und anerkennen

Auf der Seite der Muslime ist es wichtig zu verstehen and wirklich anzuerkennen,

dass sie nun hier in Europa leben und damit in einem sozialen, kulturellen, ideologischen  und religiösen Umfeld mit seinen eigenen, vor allem von den Wurzeln des judeo-christlichen Glaubens, der Kultur der Antike und deren christlichen Interpretationen geprägten, historisch gewachsenen Strukturen, Bräuchen und Sensibilitäten. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich im heutigen westlichen Europa ein rechtliches und politisches System entwickelt hat, dessen aufgeklärte und säkulare Gesichtszüge das Resultat von Auseinandersetzungen und zuweilen auch blutigen Kämpfen zwischen verschiedenen sozialen Schichten und religiös-kulturellen Gruppen, d.h. nicht zuletzt auch zwischen christlichen religiösen Konfessionen und Sekten, sind.

Beide Seiten werden in aller Offenheit über die gemeinsamen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für alle Gruppen nachdenken und debattieren, die in Europa und seinen verschiedenen Nationalstaaten leben und in Frieden leben wollen. Was sind die wesentlichen Elemente des alle verpflichtenden Rahmens und wo und wie kann dieser Rahmen weiter entwickelt werden, so dass ein adäquaterer Kontext für die gerechte Abwägung vernünftiger Forderungen der muslimischen Seite zustande kommt? Welche Aspekte des muslimischen Lebens und Denkens scheinen diesem Rahmen explizit oder implizit zu widersprechen? Welches sind die Bereiche, in denen die Muslime als einzelne oder als Gruppen ihre Praxis und ihr Denken modifizieren müssten, damit es diesem Rahmen auch wirklich entspricht? In welcher Weise widerspricht möglicherweise eine bestimmte Art die Scharia zu konzipieren, bzw. das Rechtsdenken (fiqh) zu entwickeln diesem gemeinsamen Rahmen? Machen wir eine Unterscheidung zwischen Assimilation und Integration? Was verstehen wir unter diesen beiden Begriffen? Was bedeutet eine solche Unterscheidung konkret? Welches ist das passende Modell für eine ideale

europäische Gesellschaft der Zukunft, die ethnische, kulturelle und religiöse Verschiedenheit respektiert und gleichzeitig doch auch das Maß an Kohäsion fördert, das nötig erscheint für eine gerechte und harmonische Konvivenz.

4   Zu mehr und umfassenderer Information beitragen – auf beiden Seiten

In diesem Kontext brauchen die Nicht-Muslime in Europa viel mehr und solidere  Information über die Muslime, über ihr Leben, ihr normatives religiös-sozial-politisches Denken in seiner ganzen Breite, mit seinen Spannungen und schöpferischen Potenzialen. Freilich, auch die muslimische

Seite benötigt eine adäquate Kenntnis nicht nur der rechtlichen und politischen

Aspekte des europäischen Lebens, sondern auch des Lebens und Denkens, der

spezifischen Prägungen der Kirchen in Gegenwart und Vergangenheit. Wenn ein nicht-Muslimischer Europäer mit einer Organisation, einem Verein, einer Partei oder Dachorganisation der Muslime zu tun hat, kommt er/sie nicht ohne solide Information über die Grundeinstellung und Grundausrichtung dieser Gruppe aus, ohne das Wissen darum, welche relative Stärke ihr innerhalb des weiteren Spektrums der muslimischen Präsenz in einem bestimmten Land zuzuschreiben ist. Ist es nicht fragwürdig, dass der Dialog fast ausschließlich mit den Moschee-Organisierten geführt wird? Oder auch: wie viele von uns kennen zum Beispiel die Aleviten, die in Deutschland wohl weit mehr als ein Viertel der türkisch-stämmigen Bevölkerung ausmachen und deren kulturell-religiöse Tradition und Praxis sich so substantiell von der der Sunniten und Zwölferschiiten unterscheidet, dass sie selbst und andere sich fragen, ob diese wichtige Gruppe von Türken eigentlich dem Islam zuzurechnen sind?

5  Gefahren und Fehlentwicklungen

Bei weitem die meisten Muslime wollen in Frieden und Freiheit hier in Europa leben

und als muslimische  Bürger Europas einfach ein unbeschwertes, erfülltes und erfolgreiches Leben führen, einzeln und in Gemeinschaften. In der heutigen angespannten Situation finden sie es nicht leicht, die Nichtmuslime davon zu überzeugen. Denn nicht alle muslimischen Vereinigungen und Vereine erfreuen sich des Rufes, dass es ihnen primär darum geht sich ganz für das Gemeinwohl aller   Bürger– und eben nicht zuerst und primär nur für das Wohl der eigene Gruppe – einzusetzen. Anderseits sind sich die Nichtmuslime nicht immer wirklich der Spannungen und möglichen Widersprüche innerhalb der muslimischen Organisationen und zwischen den in Moscheevereinen organisierten Muslimen und den nicht so Organisierten bewusst, denn Oberfläche und Realität sind oft eben nicht deckungsgleich. Aus diesen Gründen dürfen die Nichtmuslime allgemein – und die Christen unter ihnen ganz besonders – nicht einfach mit einem vagen Gefühl des Missbehagens über die Muslime leben, sondern sie müssen gewillt sein und Anstrengungen unternehmen, sich in zuverlässiger Weise über die Weltanschauungen und Ideologien zu informieren, die die verschiedenen Gruppen von Muslimen in Europa formen. Sie sollten in Erfahrung bringen, welche Organisationen ihre Mitglieder und Sympathisanten in welcher Richtung zu formen und zu beeinflussen versuchen. Gerade auch kirchliche Fakultäten und Akademien tragen Verantwortung, über den Islam ausgewogen und differenziert und in diesem Sinne kritisch konstruktiv zu forschen, lehren und publizieren.

Die angestrebte ausgewogene Information darf die dunkleren Seiten des Bildes nicht vertuschen. Der informierte Christ leistet dem muslimischen Mitbürger keinen Dienst,

wenn er oder sie ausschließlich die schönen und angenehmen Seiten des Islam und die erfolgreichen Beispiele friedlicher Koexistenz herausstellt. Vielmehr trägt er zum Fortschritt der gegenseitigen Kenntnis nicht zuletzt auch dann bei, wenn er sich gleichermaßen mit den weniger lichtvollen Phänomenen des gelebten Islam in Europa befasst. Beide Seiten dieses realistisch-nüchternen, objektiven Vorgehens (die beiden Seiten anzuraten sind) sind als Basis für einen seriösen Dialog unabdingbar. Es geht um Selbstkritik, was unsere eigenen vereinfachenden – oder gar verzerrenden – Bilder vom anderen – sowie mögliche Reaktionen, die von diesen beeinflusst sind – angeht. Es geht aber ebenfalls um kritische Bewertung und um Antworten auf eindeutig fragliche Aspekte der Realität der jeweils anderen Seite und ihrer Sicht des anderen. Negative Aspekte der politischen, kulturellen und religiösen Realität zu verneinen mit dem Ziel einen falschen, faulen Frieden zu bewahren, käme einer Flucht vor der Wirklichkeit gleich.


6  Elemente wahrer Integration

Vom Beginn der Massenmigration von muslimischen Arbeitern nach Europa in den

sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an haben die christlichen Kirchen einen

beachtlichen – von den heutigen Politikern und den Moscheeorganisationen fast

schon wieder vergessenen – Beitrag geleistet, indem sie auf die Nöte der eingewanderten, und immer wieder auch benachteiligten, Muslime eingegangen sind und ihre Rechte gegenüber Staat und Gesellschaft verteidigt haben. Seit einiger Zeit ist klarer erkannt worden, dass eine solche „Rezeption“ und Annahme das Bemühen einschließen muss, den Prozess der Integration zu initiieren und zu fördern. Integration bedeutet mehr als das Bereitstellen von Wohnung und Arbeit. Integration bedeutet auch etwas anderes als die völlige Assimilation der Immigranten. Integration umfasst Erziehung der neu Angekommenen hin auf ihre Einfügung in das Netzwerk des empfangenden Staates, so dass seine Gesetze und grundlegenden Lebensformen und nicht zuletzt seine offizielle Sprache akzeptiert und geschätzt werden. Sie wird eine Privilegierung auf dem Gebiet des Rechtes vermeiden, denn diese würde die Gefahr einer Bildung von Parallelgesellschaften und gar Ghettoisierung und die Heranbildung von Zentren der Unterdrückung und Gewalt heraufbeschwören. Integration benötigt klare Vorgaben und genügend Zeit.

Wenn die religiösen Minoritäten in unseren Ländern Freiheiten und Rechte genießen, die allen Bürgern ohne Ausnahme zustehen, dann kann nicht eine Gruppe das Prinzip einer Scharia-Gesetzgebung zur Erlangung spezifischer rechtlicher Vorteile und Provisionen für sich in Anspruch nehmen. Sie darf einen allein von der Scharia geprägten Staat auch nicht zum mittel- oder langfristigen Ziel haben. Dies würde zu schweren politischen Verwerfungen führen. Es wird entscheidend sein, die Tatsache zu berücksichtigen, dass es eine Umformung der Mentalitäten unter den muslimischen Immigranten gibt, jetzt da ihre zweite oder gar schon dritte Generation heranwächst und Verantwortung übernimmt. 

Diese Fragen gehen alle Bürger an. Christen sollten jedoch aufgrund der eigenen universalkirchlichen und säkularen Erfahrung ihrer Kirchen Einsichten und Lösungswege vermitteln können, die zu einer gerechten und klugen Lösung der Probleme beitragen. Allerdings: Über Fragen der Konvivenz hinaus stellen sich für Christen und Muslime als Gläubigen weitere Fragen, die es direkt mit den Glaubensinhalten und ihrer Interpretation im Rahmen der zeitgenössischen Lebenserfahrung  zu tun haben. Ihre Bedeutung wird von vielen, die von der Religion entfremdet leben, unterschätzt. Christen als Gläubige und Muslime als Gläubige sprechen und vertreten ein Credo, und darauf basierend stehen sie ein für ein Menschenbild und für entsprechende moralische Grundüberzeugungen und Lehren. An diesem Punkt ist theologische Unterscheidung und theologische Grundlagenarbeit im Modus genuinen Dialogs von muslimischen und christlichen Theologen und Juristen angesagt, damit das Gemeinsame und das Unterscheidende sowie die normativen Grundlagen für ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben und gegenseitiges Austauschen klar hervortreten und berücksichtig werden können. Ich denke dabei vor allem an die Bereiche: Schriftauslegung; Menschenrechte; Staatsverständnis; Gewalt im Namen der Religion. Leider müssen wir in diesem Rahmen auf weitere Erläuterungen dazu verzichten.   

Ausgewählte, hier relevante Veröffentlichungen von Christian W. TROLL:

Zeugnis trifft auf Zeugnis. Trier: Paulinus, 2011

Unterscheiden um zu klären. Freiburg: Herder, 2008

(engl. Übers.) Dialogue and Difference, Maryknoll: Orbis, 2010

Muslime fragen, Christen antworten. Kevelaer: Topos plus, 2007

Als Christ dem Islam begegnen. Würzburg: Echter, 2007 

www.sankt-georgen.de (Lehrende; virtuelle Bibliothek)

www.antwortenanmuslime.com; www.answers-to-muslims.com;