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Marco Gnavi

Gemeinschaft Sant’Egidio, Italien
 biografie

Am 8. Dezember 1965 wandte sich Paul VI. beim Abschluss des großen Zweiten Vatikanischen Konzils an die Armen und Leidenden: "Ihr spürt die Last des Kreuzes am härtesten... man schweigt über euch, euer Leid ist unbekannt, fasst Mut: Ihr seid die bevorzugten Kinder des Reiches Gottes... und mit ihm, wenn ihr wollt, rettet ihr die Welt! Das ist die christliche Wissenschaft vom Leid, die allein Frieden schenkt".

Bei der Suche nach der Einheit der Christen, für die wichtige Grundlagen bei dieser Veranstaltung geschaffen wurden, wurde die Beschäftigung mit dem Leid der Menschheit und dem Gesicht des einzelnen Armen mit seiner eindringlichen Ausdrucksweise nicht außen vorgelassen. Im Vorwort der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et spes, kann man nämlich lesen: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen dieser Zeit, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind Freude und Hoffnung, Trauer und Angst auch der Jünger Christi, und es findet sich nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen widerhallte".

Vereint uns nicht dieser Gedanke auch hier in Sarajewo, wo unsere Hoffnung für die vom Leben Verwundeten, um Hoffnung zu sein, machtvoller und stärker als der Tod und leuchtend wie die Auferstehung sein muss? In uns orthodoxen, katholischen und evangelischen Christen  suchen sie vor allem die gemeinsame, uns in der Taufe geschenkte Verwurzelung in Christus. Noch vor unserer Konfessionszugehörigkeit wollen sie unsere Ähnlichkeit mit Dem entdecken, der sie in den Mittelpunkt seines Lebens gestellt hat. Die Liebe zu den Geringsten ist daher kein angefügter Zusatz unserer Suche nach Gemeinschaft: Sie ist im Lebenssaft des Rebstocks enthalten, dessen Trauben wir sind. Seine Seligkeit Hyeronimos, der orthodoxe Erzbischof von Athen, hat am 2. September dieses Jahres erklärt: "Der andere ist nicht 'unsere Hölle', im Gegensatz zu dem, was Jean Paul Sartre behauptet hat. Der andere ist das Antlitz des geringsten Bruders, er ist der Ort der Begegnung mit Christus. Deshalb ist der Einsatz für die Armen Theologie... Er 'setzt die Liturgie fort', die dadurch auf dem Antlitz des Menschen aufleuchtet und ein Wiederstrahl des Antlitzes Gottes ist".

Die 1965 gemachte Aussage, "man schweigt über die Armen, ihr Leid ist unbekannt", ist auch heute aktuell: Die Armen sind wirklich "nicht erhörte Propheten". In ihrem Leben ist nämlich die dringend benötigte Humanisierung unserer Welt eingeschrieben. Ihr Elend ist oft eine Folge von Spaltungen, denen sich die Kirche Christi als Sakrament der Einheit der gesamten Menschheitsfamilie entgegenstellt. Ihr durch die weltweite Krise schwieriger gewordenes Leben erinnert uns an das Eschaton, das Bedürfnis nach einem endzeitlichen Heil. Sie offenbaren eine Wahrheit, die wir am meisten fürchten: Ich und wir sind Bettler um Gnade, Erbarmen und Kommunion, genau wie die Bettler vor den Türen unserer Kirchen. Die geheimnisvolle und anstößige Ungleichheit, die wir alle in uns tragen - der Lebenserwartung, der uns und anderen nicht gewährten Möglichkeiten, der Gesundheit, etc. - ist für den Christen keine nüchterne soziologische Tatsache. Wir dürfen sie nicht beiseite schieben, die einzige glaubwürdige Antwort ist die kenotische und unentgeltliche Liebe, die bis zur vollkommenen Selbsthingabe geht. Die Märtyrer der Nächstenliebe aus allen Konfessionen beunruhigen unsere Lauheit …

Die Brotvermehrung am Ufer des Sees von Galiläa im Evangelium fordert auch in unseren Tagen das Gefühl der Ohnmacht der Christen, sowie der säkularen Welt heraus: Die Worte Jesu, "gebt ihr ihnen zu essen", sind ein Aufruf, Werkzeuge der demütigen christlichen Kraft zu werden. Ich denke an die orthodoxe Kirche auf den Straßen von Athen in diesen schwierigen Monaten der Prüfung, an Bischof Gabriel und die Vereinigung Apostolì, mit der die Gemeinschaft Sant'Egidio heute zusammenarbeitet. Ich bin mir bewusst, wie sehr die Krise Europas mit den Worten Seiner Seligkeit Hyeronimos nicht nur finanzieller Natur ist, sondern spirituelle Wurzeln hat.

50 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils spüren wir, wie lebendig die Aussage von  Gaudium et spes ist: Es "obliegt der Kirche durch alle Zeit die Pflicht, die Zeichen der Zeit zu erforschen und im Licht des Evangeliums auszulegen … Es ist deshalb nötig, dass die Welt, in der wir leben, sowie ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihr oft dramatischer Charakter erkannt und verstanden werden". Heute können wir viele Jahrzehnte danach gemeinsam die Zeichen der Zeit erforschen und die tiefen Strömungen in der Geschichte wahrnehmen. Das haben wir eindringlich und froh mit Seiner Heiligkeit Kyrill und mit besonderem Blick auf unseren Kontinent getan. Diese große Kirche hat nach 1989 wieder eindrucksvoll den Weg der Nächstenliebe beschritten, der ihr vom sowjetischen Kommunismus verboten worden war. Sie wurde durch ihn nicht nur bis zum Martyrium verfolgt, sondern es sollte ihr auch eine Trennung zwischen Liturgie und Liebe zu den Armen aufgezwungen werden.

Ich denke an die gelungene und intensive Freundschaft zu Vladika Pantaleimon, dem Präsidenten der Caritasabteilung und an unsere weiteren geplanten gemeinsamen Projekte. Wir haben uns gegenseitig mit spiritueller Weisheit bereichert (ich denke dabeu an Metropolit Filaret) und die Kraft von Martyrium und Nächstenliebe erforscht. Wir haben kürzlich bei einer Tagung über das Thema des Alters nachgedacht und den Reichtum der Liturgie in verschiedenen Traditionen, die Schrift und die monastische Traditionen aus dem Osten und dem Westen sprechen lassen. Es wurde an bedeutende und vom Geist erfüllte alte Menschen erinnert und aufgezeigt, wie viel Reichtum bei Johannes Paul II., Patriarch Tichon, Patriarch Athenagoras und Schwester Emmanuel zu finden ist und wie sehr diese "alten" Zeugen die Geschichte beeinflusst haben. Das ist das paradoxe Leben der Christen. Große Kirche mit Jahrhunderte langer Tradition haben epochale Krisen durchgemacht, den Glaubensschatz bewahrt und ihn für ihre Zeit fruchtbar gemacht.

Nach dem Grundsatz des Paulus wird die Schwäche in Christus zur Stärke. Diese Schwäche kann uns auch näher zusammenführen. Ich denke an die lutherische Kirche von Norwegen und ihres Primas, den befreundeten Bischof Kvarme. Der schrecklichen mörderischen Predigt des Hasses, dem in Oslo viele Unschuldige im vergangenen Juli zum Opfer gefallen sind, hat diese Kirche die Predigt der Liebe und die Stärke der Jugendlichen entgegengestellt. Uns hat die Entscheidung des Bischofs mit zahlreichen Pastoren beeindruckt, eine Pilgerreise nach Rom durchzuführen, um gemeinsam mit der Gemeinschaft Sant'Egidio der Liebe zu den Armen tiefe Wurzeln zu verleihen. Auf diese Weise drängen die Armen als Bevorzugte im Reich Gottes die Kirchen und die Christen dazu, in Wahrheit über den Tod und die Auferstehung des Herrn zu sprechen und ihn gemeinsamen unter seinen geringsten Brüdern und Schwestern zu entdecken.

Ich habe den Eindruck, darin eine Synergie und Übereinstimmung von Gesten und Zeichen zu erkennen, die von ihren Hirten bekundet werden. Als Papst Benedikt in der römischen Mensa von Sant'Egidio zu den Armen sprach, mit denen er am 27. Dezember 2009 ein weihnachtliches Festmahl gehalten hat, sagte er: "Heute wird hier Wirklichkeit, was im Haus geschieht: Der Dienende und Helfende vermischen sich mit dem, dem geholfen und der bedient wird. Auf dem ersten Platz befindet sich der am meisten Bedürftigste. Mit den Worten des Hl. Johannes Chrysostomos möchte ich alle daran erinnern: 'Bedenke, das du ein Priester Christi wirst, wenn du mit eigenen Händen nicht Fleisch, sondern Brot, nicht Blut, sondern einen Becher Wasser gibst' (Homilie über das Matthäusevangelium 42,3). Als die römischen Beamten jener Zeit den Hl. Laurentius als Diakon der Kirche Roms einschüchternd aufforderten, die Schätze der Kirche auszuhändigen, brachte er die Armen Roms als wahren Schatz der Kirche".

In gleicher Weise hat Seine Heiligkeit Kyrill mitten in der Karwoche ein persönliches Geschenk an die Obdachlosen von Moskau verteilt zusammen mit einem von ihm unterschriebenen Brief. Darin bekennt er sich dazu, dass sie ein wesentlicher Teil der orthodoxen Kirche sind und sich dort zuhause fühlen sollen, weil Christus ihr Bedürfnis nach Liebe und Leben kennt. Wir haben den Eindruck, dass hier aus alten Wurzeln alte und neue Dinge hervorgehen.

Johann von Kronstadt ermahnte: "Nimm mit liebenswertem und lächelndem Gesicht den auf, der zu dir kommt, egal wer es sei, auch einen Bettler, vor allem wenn er aus Glaubensgründen kommt. Erniedrige dich vor allen im Bewusstsein, geringer als alle zu sein, denn Christus selbst hat dich erwählt, um der Diener aller zu sein". Gregor von Nyssa sagt mit ähnlichen Worten: "Verachte die Armen nicht. Fragt euch, wer sie sind, und entdeckt ihre Größe: Sie haben das Gesicht unseres Erlösers […]. Die Armen sind die Verwalter unserer Hoffnung … Mitleid und Anteilnahme sind Dinge, die Gott liebt. Sie vergöttlichen den, in dem sie lebendig sind […], sie machen aus ihn das Bild des ersten und ewigen Seins, das alle Einsicht übersteigt". Das ist die christliche Wissenschaft vom Leid, die allein Frieden schenken kann.

Diese christliche Wissenschaft wird oft von den Anawim, den Armen selbst vermittelt. Abschließend möchte ich einen von ihnen sprechen lassen, sie heißt Hiresyo und ist heute 23 Jahre alt. Sie ist schwer behindert, lebt jedoch ein Abenteuer der Liebe, des Glaubens und einer unglaublichen Kultur gemeinsam mit der Bewegung "Die Freunde". Sie kann nicht sprechen, es gibt jedoch eine besondere Technik (gestützte Kommunikation), durch die sie am Computer geschrieben hat:
"Ich könnte mir die Welt in unermesslichen Horizonten vorstellen, doch ohne Frieden ist der Horizont finster.
Ich könnte gesund sein, doch ohne Liebe wäre ich in der Seele krank.
Ich konnte die Einschränkungen überwinden, weil ich geliebt wurde und mir unvorstellbare Möglichkeiten geschenkt wurden.
Begrenzungen werden von dem geschaffen, der nicht versucht zu lieben".