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François Clavairoly

Präsident der Protestantischen Föderation Frankreichs
 biografie

 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht! 

Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! 
Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes; denn es steht geschrieben: Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. 
Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. 
Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!
Römer 12,17-21 
 
« Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!»
 
Liebe Freunde, Brüder und Schwestern,
diese Ermahnung des Apostels Paulus in Form eines Appells zu „praktischer Weisheit“ klingt in unseren Herzen mit Macht wider, in der Gegenwart unseres zerrissenen und orientierungslosen Europas, in der Gegenwart unseres Europas, das trotzdem die Bedingungen für seine Zukunft erwartet und vorbereitet. Schon zur Zeit des Apostels Paulus verwundeten und beunruhigten die Krisen auch die Vertrauensvollsten, die Krisen, die das Römische Reich durchzogen, die seine Hauptstadt Rom trafen, aber auch die schon damals geteilten ersten christlichen Gemeinschaften.
 
Heute, in diesem Moment, in dem wir vereint sind, um uns von neuem zu sagen und der Welt zu wiederholen, dass unsere gemeinsame Berufung ist, Brücken zu bauen, Wege, Bande der Brüderlichkeit zu knüpfen, ist das Wort des Apostels erneut von brennender Aktualität und treibt uns zur Eile an.
 
Werden wir vom Bösen überwältigt? Lassen wir zu, dass die Gute Nachricht des Evangeliums und die Worte des Friedens der hier versammelten Konfessionen, zerstreut und überflutet werden von den schlechten Nachrichten, die so zahlreich geworden sind?
 
Die schlechte Nachricht von einem unverschämten Populismus, der verhöhnt und lächerlich ist, aber auch so niederträchtig und gefährlich für den Frieden unseres Kontinents; die schlechten Nachrichten der wachsenden Unruhen und der Einkommensungleichheit zwischen Reichen und Armen, der Verlust an Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates in unseren Demokratien; die schlechte Nachricht von Gewalt und Konflikten, von Korruption, der identitären Notlösung, der Fundamentalismen oder die fatale Nachricht vom Klimawandel… Glauben reicht in diesem Fall nicht aus, liebe Freunde, Brüder und Schwestern, wenn Glauben nur bedeutet, zu feiern, zu beten, zu singen, zu tanzen und zu hoffen.
 
Ricœur sagte: „Glauben heißt denken“. 
 
Diese Anstrengung kritischer Intelligenz, dieser unermüdliche Appell an die persönliche und kollektive Intelligenz, die darin besteht, „zwischen den Zeilen zu lesen“, um neu unsere grundlegenden Texte zu lesen, diese Ermutigung, in gewisser Weise eine „Geste der Religion“ zu vollbringen, bevor alles geteilt und schwierig ist, diese Anstrengung ist notwendig geworden.
 
Die Religion ist kein Abgrund, wie man in diesen Tagen sagen hört, sie darf nicht Fortschrittsfeindlichkeit gleichen. Und unsere Gesellschaften, die glücklicherweise säkular geworden sind und zugleich leider ihre Ursprünge und die spirituelle Tiefe ihrer Tradition vergessen: Die Religion muss auf Seiten der Vernunft sein, um hörbar und von der Welt akzeptier zu werden.
 
Glaube und Vernunft sprechen miteinander wie Zwillinge, sie streiten, aber heimlich lieben sie sich, auch weil sie wissen, dass sie nicht aufeinander verzichten können. 
 
Denken, darüber nachdenken, was in dieser Welt geschieht, sich unterhalten, erraten, die Herausforderungen der Zukunft ausmachen, und in der Konkretheit unseres Lebens handeln, im Geheimen unserer Herzen, in unseren einfachsten Gesten, das ist die Herausforderung: die eines wohlwollenden Blicks statt eines verhärteten, die eines begleitenden und aufbauenden statt eines verurteilenden Wortes, die eines Einsatzes für das Leben und das Gute, statt der Zeitvergeudung in leeren Aktionen.
 
Hier wage ich, den großen Reformator Johannes Calvin cum grano salis zu zitieren, der in seinem berühmten Kommentar zum Römerbrief 1540 schrieb: „Wer auch immer versucht, das Böse mit dem Bösen zu besiegen, wird möglicherweise seinen Feind an Bosheit übertreffen, aber es wird ihm Ruin und Verwirrung bringen!“  Wie viele unserer Kirchen waren im Lauf der Geschichte oder auch in jüngerer Vergangenheit davon betroffen! Und wie sehr wurde ihr Wort in Misskredit gebracht durch das Böse, das sie getan haben, und, noch schlimmer, dem Schaden, den sie auch heute noch anrichten!
 
Die Kirchen aller möglichen Konfessionen und auch die anderen Religionen ohne Ausnahme sind gemeint mit diesem Ruf zur Vorsicht und Weisheit, vor allem, wenn der Apostel Paulus uns warnt und uns genau bittet, keine zu hohe Meinung von uns selbst zu haben, wie überraschenderweise in dem Vers direkt vor den gerade zitierten Versen geschrieben steht (Röm 12,16).
 
Diese Einladung zur weisen Vorsicht, geht, um die Wahrheit zu sagen, alle an, auch alle, die öffentlich sprechen oder eine Verantwortung ausüben oder ein Amt bekleiden.
 
Die ausufernden Erklärungen, der erhobene Ton, die männlichen Posen von Politikern oder religiösen Menschen, die sich verlieren in einem kurzlebigen Allmachtsgefühl, Phrasen mit lang geplantem Effekt, Slogans, einfache Antworten,  die unbefangen und schamlos auf komlexe Probleme gegeben werden, wie alle wissen – Immigration, Asyl, Armut, Gewalt, Multikulturalismus, Interreligiöse Auseinandersetzung, Verhandlungen über Menschenrechte etc. – all das beeindruckt den Apostel Paulus nicht, so wage ich im Zentrum dieser Meditation zu behaupten.
 
All das darf uns nicht lähmen. 
 
Das Wort des Evangeliums, sanft und bestimmt, klar und wohlwohllend, kritisch und intelligent, warnt unermüdlich unsere Welt und gibt ihr Orientierung. 
 
Wenn Ratio und Fides, Vernunft und Glaube, streiten, wenn sie im Dialog gemeinsam versuchen, weise und klar zu sein, ist doch der Wahnsinn des Evangeliums am Werk.
 
Der Apostel hatte Christus zugehört oder zumindest hatte ihm zweifellos jemand dessen Worte überliefert: Es ist der Wahnsinn der Bergpredigt, die Öffnung, der Geistesblitz einer Verheißung, die Wirklichkeit wird: „Besiege das Böse mit dem Guten!“ Es ist die Barmherzigkeit, die sich wieder mit den beiden Schwestern verbindet, vielleicht die jüngste… die dem Zusammensein Sinn gibt wie eine leuchtende und offene Trinität.
 
In der Tat, alles ist offen: Jegliche Initiative, die dieser Verheißung Recht gibt, ist erlaubt. Alles ist möglich, auch, wenn nicht alles nützt. Jeder ist gerufen, aufgefordert zu handeln. Sant’Egidio wurde vor 50 Jahren gerufen, die Reformatoren vor 500 Jahren, die Friedensnobelpreisträger, die Anonymen, die in großer Zahl taten, was nötig war, um die Verfolgten zu retten, die Familien, die Flüchtlinge aufnehmen, die Krankenschwestern, Ärzte, Forscher, Magistrate, die Bauern, Künstler, Militärs, die Lehrer, Professoren, Handwerker und Händler, die Bauern jedes Landes, die Verwaltungsmitarbeiter, Gesetzgeber, alle, die in den Briefen des Paulus „Heilige“ genannt werden, alle sind berufen in den Dienst zur Ehre Gottes, manchmal ohne es wissen.
 
Ohne die erzwungene Rückkehr zur Gewalt, ohne Reden und Aktionen des Hasses, ohne den niederträchtigen Aufruf zu Rache, ohne das ironische Grinsen des Demagogen, der Rückenwind hat und ohne den schrecklich gewaltsamen und beunruhigenden Ton des Spotts. Alle, die dieses unglaubliche Wort in die Tat umgesetzt haben, dieses Wort, dass wir weitergeben sollen, sie alle und auch alle, die ihr hier versammelt seid, wenn ihr dieses Wort annehmt und ihm zuhört: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“
 
Amen.