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Andrea Riccardi

Historiker, Gründer der Gemeinschaft Sant'Egidio
 biografie

 Andrea Riccardi, Friedenstreffen „Frieden ohne Grenzen“,

Madrid am 15. September 2019
 
Herr Präsident der Zentralafrikanischen Republik, sehr geehrte Religionsoberhäupter,
 
ich möchte Sie im Namen der Gemeinschaft Sant’Egidio willkommen heißen, Sie alle, die Sie an diesem Friedenstreffen teilnehmen, auf dessen Bedeutung ich eingehen möchte. Zuvor will ich aber Herrn Kardinal Carlos Osoro Sierra danken; er hat gesagt, dass Madrid für ein paar Tage die Hauptstadt des Dialogs ist und dass er davon überzeugt ist, nicht Grenzen, sondern der Dialog rettet uns. Vielen Dank, Herr Kardinal!
Frieden ohne Grenzen kann als Utopie erscheinen. Sind Grenzen nicht ein Schutzwall gegen Instabilität? Grenzen wurden im Laufe der Jahrhunderte gezogen, kennzeichnen Länder und stehen für nationale Identitäten: wie die Wände eines Hauses, die einer Familie Vertrautheit und Identität bieten. Darüber hinaus gibt es auch Grenzen zwischen Religionen und Kirchen, die sich durch spirituelle Erfahrungen und theologische Inhalte unterscheiden.
In der globalen Welt brauchen wir alle ein Haus mit einer abgrenzenden Umfassung, um zu leben. Eine Nation, eine Sprache, eine Kultur stehen für ein Zuhause. In diesen Zeiten brauchen wir sie auch, um uns vor kalten Winden einer gleichmachenden und erdrückenden, sowie vollkommen wirtschaftlichen und auf den Wettbewerb ausgerichteten Globalisierung zu schützen, die Kulturen und Wurzeln beseitigt. Die Zerstörung von Identitäten führt zur Entwurzelung, den Nährboden von Fanatismus und Radikalismus.
Das Problem ist nicht, dass es Grenzen gibt, es liegt darin, wie Grenzen gelebt werden, und es ist manchmal größer oder kleiner ist. Oft spalten abweisende oder hasserfüllte Grenzen Welten voneinander und schaffen ein misstrauisches und konfliktgeladenes Klima. Wir werden in den Podien und Diskussionen dieses Friedenstreffens über viele Aspekte des globalen Zusammenlebens sprechen. Uns beunruhigt die Frage nach dem Frieden. Einige werden sagen, das ist eine allgemeine Aussage. Lassen Sie mich sagen, dass die vereinende Sichtweise vom Frieden die von den Religionen vererbte Vision ist: Der Friede umfasst alles, vom Ende der Konflikte über die Beziehungen unter den Menschen bis hin zur Dimension des Herzens. In diese Richtung wird sich, so nehme ich an, auch Metropolit Hilarion von Volokalamsk aussprechen, der mit einer wichtigen Delegation der russischen Kirche anwesend ist. 
Gläubige Menschen werden gleichermaßen in religiösen Texten als Männer und Frauen beschrieben, die ihre Augen zum Himmel erheben, über die Grenzen hinweg. Der Himmel wird nicht eingegrenzt. Wir wollen auf globale Weise über Frieden sprechen, auch wenn die einheitliche Bedeutung dieser großartigen Idee verloren gegangen ist. Es gibt wenig Alarmstimmung, was fortdauernde Konflikte, Kriegsgefahren, überhitzte Grenzen betrifft. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, dass Frieden fehlt. Es genügt uns, dass der Krieg nicht im eigenen Land ist. Doch in der globalen Welt ist – wie es der Terrorismus zeigt – das Leben von niemandem sicher, außer durch einen größeren Frieden.
Meine Grenzen beschützen mich nicht! Denken Sie an die ökologischen Fragen, die heute endlich von vielen als entscheidende Probleme wahrgenommen werden, während sie bis vor Kurzem nur als Fragen von Spezialisten angesehen wurden. Wenn wir unser Land vor der Zerstörung bewahren wollen, müssen wir die Erde retten! Es gibt unlösbare Probleme, wo grenzüberschreitende Perspektiven und Handlungen fehlen.
Wir haben die Werkzeuge noch nicht zur Hand, um global auf die Umwelt zu reagieren. Papst Franziskus prangerte dies in der Enzyklika Laudato Sì an, als er sagte: „Die Erde, unsere Heimat, verwandelt sie zunehmend in eine riesige Mülldeponie.“ Dieser Text ist ein Weckruf angesichts der Ausbeutung des Planeten, der für künftige Generationen immer unbewohnbarer wird. Aus dem Schmerzensschrei in dieser Enzyklika wird ein Gebet: „O Gott der Armen… heile unser Leben, damit wir die Welt beschützen und sie nicht ausplündern, damit wir Schönheit säen und nicht Verschmutzung und Zerstörung.“
Wir haben zu wenige Werkzeuge, um global zu handeln. Die Folgen ökologischer Katastrophen machen nicht an Grenzen Halt: Sie beziehen alle mit ein. Wenn der Amazonas brennt, brennen auch wir mit dem großen Wald! Die Erde zeigt, dass wir alle konkret miteinander verbunden sind. Die Religionen lehren dies seit Jahrtausenden: Menschlichkeit, Personen, Völker – sie alle haben ein gemeinsames Schicksal. Der religiöse Humanismus hat dies immer gespürt, auch wenn er es manchmal vergessen hat. 
Bauman sagte bei unserem Friedenstreffen 2016 in Assisi vor den Religionsoberhäuptern: „Wir sind alle voneinander abhängig und können nicht rückwärts schreiten; tatsächlich versuchen wir aber, diese kosmopolitische Realität noch mit Mitteln zu bewältigen, die unsere Vorfahren entwickelt haben, um in einer begrenzten Wirklichkeit zu leben. Doch das ist eine Falle.“ Er hatte Recht: Wir verwalten die globale Wirklichkeit mit Politikformen und Werkzeugen der Vergangenheit, die den gegenwärtigen Dimensionen nicht gewachsen sind. In einer weitsichtigen Zusammenfassung wies Bauman auf die doppelte Wirkung der Globalisierung hin: „Sie entzweit so sehr, wie sie verbindet; sie entzweit und vereint dabei…“. Mauern fallen und gleichzeitig entstehen Mauern. Das erleben wir gerade.
Ein Gedenktag zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich: Am 9. November 1989 fiel vor dreißig Jahren die Berliner Mauer, die Welt der geschlossenen Grenzen und der Mauern des Kalten Krieges endete. 1989 war die große Überraschung eines friedlichen Wandels. Für fast alle Menschen und Politiker kam dies unerwartet. Man bedenke, dass wenige Tage vor dem Fall der Berliner Mauer der deutsche Bundeskanzler Kohl, ein weitsichtiger Politiker, im Gespräch mit dem polnischen Außenminister Geremek sagte: „Wir wissen genau, dass wir beide nicht lang genug leben, um Deutschland wiedervereint zu sehen.“ Anders als erwartet fiel die Mauer kurz darauf, und der Prozess der Globalisierung nahm seinen Lauf. 
Ich muss an die Geschichte unserer Friedenstreffen denken. Am 1. September 1989 waren wir in Warschau zum Friedensgebet: So vieles war in der Schwebe zwischen Hoffnung und Ungewissheit, während die Fäden des Dialogs wieder miteinander verbunden wurden. Ich erinnere mich an die Tage des tiefen Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg damals in Polen, das so viel gelitten hat. Das Herz des Treffens war ein Friedenstraum, der damals greifbar nah erschien: „Nie wieder Krieg!“
Seitdem hegen wir die tief verwurzelte Hoffnung, dass die wirtschaftliche und politische Globalisierung von einer spirituellen Globalisierung begleitet werden muss. Das ist Beitrag unserer jährlichen Treffen. Vor dreißig Jahren setzte die Globalisierung ein. Viele sahen darin den Beginn einer Friedensepoche. Es gab einen großen Impuls im Leben der Völker. Die Menschen begannen, über Grenzen hinwegzublicken, sich als Teil eines einzigen Schicksals zu  begreifen, eine breite Vision zu hegen. Die Globalisierung nach 1989 hat scheinbar verbindende Prozesse angeregt: auch religiöse, ökumenische, kulturelle. Doch – wenn wir die vergangenen Jahrzehnte betrachten – müssen wir feststellen, dass die Globalisierung ein wirtschaftlicher Riese geworden und dass der globale spirituelle Humanismus leider ein Zwerg geblieben ist. 
Im Schwindel des Erfolgs und von arroganten Wirtschaftsinteressen hat die Welt ihre Begeisterung für den Frieden verloren. Ihr ist der großzügige Sinn einer globalen Vision abhanden gekommen, weil sie von partiellen Interessen getrieben wird. Sie hat Wert auf die Grenze zum anderen gelegt, auf die Grenze, hinter der die anderen verschwinden, als ob sie nicht existieren oder eine Bedrohung darstellen. In der globalen Welt hat es leider nur wenige globale Visionen gegeben, nur wenige von einem weiten und großzügigen Geist genährte Visionen. 
In dreißig Jahren sind neue Grenzen entstanden. Denken wir an diejenigen, die aus dem Ende der Sowjetunion hervorgegangen sind. Während einige Grenzen – wie innerhalb der Europäischen Union relativiert wurden – sind andere heiß geworden, es gab Kämpfe, um neue zu schaffen. Einige sind keine Grenzen, sondern Mauern: aus militärischen oder Gründen der Verteidigung, um Migranten abzuwehren, um das nationale Staatsgebiet zu schützen. In der globalen Welt bewegen sich Auswanderer und Flüchtlinge in so großer Zahl wie nie zuvor in der Geschichte, aber trotzdem werden weiter Vorschläge von Grenzen gemacht. Die Frage der Migranten und Flüchtlinge stellt sich mit solcher Wucht, dass sie unmöglich auf dem Weg von Entscheidungen einzelner Länder zu lösen sind. Filippo Grandi, ist ein Zeuge dafür, den ich begrüße.
In Ermangelung umfassender Visionen gibt es eine Wiederaufnahme antagonistischer, nationaler oder nationalistischer Perspektiven, vereinfachte Reaktionen auf eine Globalisierung, die bedrohlich erscheint, diese Vereinfachung scheint vor komplexen Problemen zu schützen. Ich will den Alarmrufen nicht nachgeben. Denn wir können das Heute mit seinen komplexen und miteinander verbundenen Herausforderungen nicht leben, ohne eine weite Vision zu suchen, ohne des Atem eines planetarischen Humanismus.
Es muss noch an einen weiteren Jahrestag erinnert werden: Den 1. September 1939, als Truppen der Nationalsozialisten die polnischen Grenzen verletzten und den schrecklichsten Krieg zwischen Europäern begannen, der zum Weltkrieg wurde und Millionen von Menschenleben verschlang, der Tod, Verwüstung, Schrecken und Völkermord hervorgebracht hat, wie sie für den menschlichen Geist unvorstellbar, aber tatsächlich geschehen sind. Ich verneige mich vor einem Zeugen dieses Krieges und der Shoah, einem Kind von Buchenwald, wie es der Rabbiner Meir Lau ist. 
Die Erinnerung an diesen Krieg ist eine Erinnerung daran, was für ein Schrecken jeder Krieg ist. Im Schmelztiegel der Leiden des Krieges entwickelte sich vor achtzig Jahren ein starkes Bewusstsein für die Achtung der Souveränität und Freiheit der Völker und der Menschenrechte. Die Philosophie und Funktion der Vereinten Nationen hat hier ihre Wurzeln. Seit dem Zweiten Weltkrieg begann der Prozess der nuklearen Bewaffnung, das Wettrüsten, das – trotz entscheidender Fortschritte der Abrüstung – heute einen beunruhigenden Wiedereinzug hält. Der 1. September 1939 war der Beginn der Globalisierung von Hass und Krieg, wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Er enthüllt, wie viel Böses und Leid ein Krieg ohne Grenzen hervorbringen kann! Er erinnert daran, dass Frieden niemals sicher ist und die arrogante Konfliktlogik den politischen Willen verführen und in einem Räderwerk zerquetschen kann. Heute gibt es keinen Menschen des Friedens, nicht einmal einen jungen, der sich nicht mit dem Erbe der Kriegsgenerationen beschäftigen muss.
Die komplexe Wirklichkeit der heutigen Welt kann nicht durch das brutale Ziehen von Grenzen oder parteiischen Interessen vereinfacht werden. Sie ist facettenreich – wie Papst Franziskus gern und oft sagt. Sie muss daher von dem Gewebe eines feinen Dialogs durchdrungen sein. Aus diesem Grund bleiben wir dem „Geist von Assisi“, der seit 1986 weht und Begegnung, Dialog und Freundschaft hervorbringt, treu. Eine letzte Frucht dieses Geistes ist erst im vergangenen Februar gewachsen, nämlich das innovative und bedeutende Dokument über die universale Brüderlichkeit aller Menschen für den Frieden auf der Welt, das Papst Franziskus und der Groß-Imam von Al-Azhar, Al Tayyeb, in Abu Dhabi unterzeichnet haben und das Wege zum Frieden aufzeigt: „Dialog, Verständnis, Verbreitung der Kultur der Toleranz, Akzeptanz des Anderen und Koexistenz.“
Wir dürfen durch erdrückende parteipolitische Interessen nicht zu resignierten Menschen werden, wie es bei so vielen Großen der Erde passiert. Oft erahnen die Armen in ihrer Not den Weg. Der Weg des Geistes öffnet Wege, verbindet, setzt den Dialog frei. Und das ist eine wirkliche Kraft.
Trotz der anstrengenden Geschichte gehört der Dialog zur Tiefe der Religionen, wie zu jeder Kultur, in der der Humanismus vorherrscht. Tatsächlich pflegen Religionen „den transzendenten Ursprung des Dialogs“ – wie ein geistliches Lied des 20. Jahrhunderts sagt. Dialog und Universalismus sind mit unterschiedlichen Geschichten in den Chromosomen und im Alltagsleben der Religionen verwurzelt. Und die Wurzeln tragen Früchte. Grenzen existieren, aber sie dürfen nicht zu Mauern werden oder die Zukunft prägen. Die Gläubigen überwinden sie mit dem Blick des Herzens und dem Wort des Dialogs. Wir werden getröstet durch die Wortes des Psalmisten (Ps 60): „Von den Enden der Erde rufe ich dich an, o Herr.“ 
 


Rede von Andrea Riccardi
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