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Daniela Pompei

Communauté de Sant'Egidio, Italie
 biographie

 Papst Franziskus war im Februar diesen Jahres (2019) in den Arabischen Emiraten. Als die Medien die Papstmesse kommentierten, sprachen sie von einer „ozeanischen Menge“. Mehr als 140.000 Menschen waren im Stadion von Abu Dhabi zusammen gedrängt, die Mehrheit unter ihnen stammten aus den Philippinen, Sri Lanka, Indien, Bangladesch und möglicherweise waren auch manche Einheimische dabei. Jedenfalls waren es mehr Migranten als Einheimische. Mir scheint, ausgehend von diesem Bild kann man über die weltweiten Migrantenbewegungen im neuen Jahrtausend nachdenken. Steve Morgan, der die Erscheinungsformen der Migration analysiert, hilft uns, dieses Bild in Zusammenhang zu bringen mit den Lebensbedingungen der Migranten in den sechs Golfstaaten. Das Bild, das daraus entsteht, ist eindeutig unerwartet und unbekannt: „Die ausländischen Bewohner, die heute beinahe 30 Millionen sind, übertreffen zahlenmäßig die einheimische Bevölkerung“. Zur Präzisierung: In den Golfstaaten kommen 30 Millionen Migranten auf eine Gesamtbevölkerung von 58 Millionen Menschen, also mehr Migranten als Einheimische.

Dieses System in den Golfstaaten ist ein völlig atypisches Migrationssystem im Vergleich mit an anderen Entwicklungen weltweit. Die Migranten stammen aus ärmsten Ländern und wandern in wirtschaftlich reiche Länder aus (Katar übertrifft die USA hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens, die Emirate übertreffen Japan, Kuwait übertrifft Spanien), welche jedoch hinsichtlich der menschenrechtlichen Entwicklung als extrem gefährdet gelten, dies geht auch daraus hervor, dass es Formen von politischem Autoritarismus gibt, starke Diskriminierungen, die Frauen spielen eine untergeordnete Rolle, es gibt wenig Respekt vor den Menschenrechten, sodass die Lebensbedingungen dieser Immigranten sowie die Anerkennung ihrer Menschenrechte drastisch von diesen Faktoren bestimmt wird. Ich denke zum Beispiel an die Lebensbedingungen der Dienstmädchen – aus den Philippinen oder aus Indien - , denen von Seiten der Arbeitgeber der Pass abgenommen wird, um dadurch deren Bewegungsfreiheit – und nicht nur das – schwer einzuschränken. Dennoch scheint es, dass die Anwesenheit der Migranten – obwohl sie so eingeschränkt werden - eine positive Rolle spielen, insofern, dass man in diesen verschlossenen und monolithischen Welten, wo seit Jahrtausenden der Islam die einzig präsente Religion war, durch sie Öffnungen – wenn auch zaghafte – wahrnehmen kann. Für die Messe mit dem Papst gewährten die Arbeitgeber einen Tag dienstfrei. Qatar hat die Genehmigung erteilt, zusätzlich zu den bereits bestehenden neue Kirche zu eröffnen. Kirchen für die Christen aus den Philippinen, Indien und Sri Lanka. Das, was in theoretischen Debatten nicht erreicht werden konnte, beginnt möglich zu werden infolge einer Migrationsbewegung von armen Arbeitern, die über lange Zeit hinweg zu einem Leben unter sklavenähnlichen Bedingungen verurteilt waren. 
Ich denke, es muss erst noch der historische Umfang jenes Dokuments erkannt werden, das ausgerechnet in den Arabischen Emiraten vom Papst und von Al Tayyeb unterzeichnet wurden. In dem „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ wird zum Beispiel betont: „Es ist eine unabdingbare Notwendigkeit, das Recht der Frau auf Bildung, auf Arbeit und auf Ausübung der eigenen politischen Rechte anzuerkennen“.
Der interreligiöse Dialog wird oftmals als ein Bereich dargestellt, der nur wenigen vorbehalten ist, auf enge doktrinäre und theologische Bereiche beschränkt. Über Jahre hinweg war das so: ein Interessensfeld, das nur den Spezialisten vorbehalten ist. Heute jedoch sind durch die Immigration Millionen von Menschen jeden Tag mit anderen Menschen konfrontiert, die anders leben und einen anderen Glauben haben (oder sich säkularisieren). Somit wurde der interreligiöse Dialog tägliches Brot für Millionen von Menschen, d.h. so notwendig wie das Brot.
Ein anderes Bild, eine andere Ansicht: Vor einigen Tagen sprach ich mit Shanty, einer Frau aus Sri Lanka, die seit langem die italienische Staatsbürgerschaft hat. Shanty erzählte mir, dass die Tochter, die in Italien geboren ist und hier die Universität mit dem Master abgeschlossen hat, definitiv in ihr Heimatland zurückgekehrt - besser gesagt emigriert – ist, wo sie ein Hotelzentrum eröffnet hat. Dies lässt darüber nachdenken, wie eine Generation denselben Migrationsweg gehen kann wie deren Eltern, jedoch in entgegengesetzter Richtung. Ich frage mich, warum eine 23jährige junge Frau, die in Italien geboren ist, nicht an eine Zukunft in jenem Land denkt, in dem sie geboren ist, gelebt hat, studiert hat, dessen Bürgerin sie ist. Warum sucht sie andernorts jene Möglichkeiten, die ihr sonst verschlossen wären? Die eben dargestellte Perspektive dieser jungen Frau kann als Ausdruck eines verbreiteten Phänomens verstanden werden, dessen Richtung und Folgen wir gerade erst zu erkennen beginnen: eine zunehmende Geschichte von unaufhaltbarem Attraktivitätsverlust der europäischen Länder, die bis vor nur wenigen Jahren noch ein begehrtes und ersehntes Ziel für denjenigen darstellten, der eine Hoffnung für seine Zukunft suchte.
Auch hier helfen uns die Daten, Entwicklungen in diese Richtung zu verstehen und vorauszusehen. Solche Regionen in der Welt wie Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland gehören heute noch zu jenen, die einen beachtlichen Zuwanderungsstrom aufnehmen. Wenn man jedoch die letzten Daten der UNO untersucht, tauchen deutliche Veränderungen hinsichtlich der Routen und Ziele der Migrationsbewegungen auf: „Die Nettomigration in Europa und Nordamerika betrug um 16% weniger im Zeitraum 2010-2020 verglichen mit dem Zeitraum 2000-2010“.
Gemäß der Daten der UNO gibt es in der Welt an die 258 Millionen Migranten, davon sind 106 Mio. Asiaten. Was sich in den vergangenen Jahren geändert hat, sind nicht die Zahlen – sie sind mehr oder weniger konstant – sondern die Routen: Es bewegt sich weiterhin die mehr oder weniger selbe Anzahl an Menschen, jedoch mit neuen Zielrichtungen und anderen Zielen als früher. Die Migration der Länder des Südens in den Norden der Welt betrifft 89 Millionen Menschen, d.h. Afrikaner und Asiaten nach Europa. Die Migration von Norden nach Norden betrifft 57 Millionen; hier denke man an die Rumänen oder Frauen aus der Ukraine, die nach Westeuropa gehen. Dennoch handelt es sich hier nicht um die nennenswertesten Migrationsbewegungen, denn jene Routen, die die höchste Zahl betreffen, bis hin zu 97 Millionen Menschen, beinahe 40% von allen, brechen im Süden auf und bleiben im Süden. Großteils handelt es sich um Migrationsbewegungen innerhalb von Afrika oder Asien, zum Beispiel Menschen aus Kongo, die nach Südafrika gehen, Menschen aus Indien, die in südostasiatische Länder gehen, die weiter entwickelt sind. Ein anderes Element, das mit Aufmerksamkeit betrachtet werden muss, ist jenes der Migration von Norden nach Süden, das gut 14 Millionen Menschen betrifft. Dieser letztere ist ein sehr heterogener Strom, bei dem es sich um Menschen handelt, die in Europa geboren sind, das Rentenalter erreicht haben und sich dazu entschließen, in ein südliches Land zu ziehen, oder um junge Europäer, die aus beruflichen Gründen in Länder ziehen, deren Sprache sie sprechen, oder auch Immigranten, die seit langem in einem Land wohnen und deren Kinder sich dazu entscheiden, ökonomische Aktivitäten im Herkunftsland ihrer Eltern zu unternehmen. Auch dieses Hinausgehen der jungen Europäer ist ein Signal, ein Indikator für den Attraktivitätsverlust des Kontinents. Vor wenigen Wochen gingen die italienischen Journalisten mit Erstaunen und Alarmbereitschaft daran, die neue Auswanderung junger Italiener zu kommentieren. Von der demographischen Bilanz ISTAT aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass 157.000 Italiener ihr Land verlassen haben. Davon wird weniger gesprochen, aber es ist ein Aspekt dieser Emigrationsbewegung: ca. 33.000, nur leicht weniger als 30%, besteht aus italienischen Staatsbürgern ausländischer Herkunft, die in Italien nicht mehr den Ort ihrer Zukunft sehen. Ein beachtlicher Teil der Emigration aus Italien ins Ausland besteht somit aus Menschen, die in der Vergangenheit nach Italien eingewandert sind – oder Kinder der früheren Einwanderer – die nun aber andernorts ihre Zukunft suchen, indem sie oftmals den entgegengesetzten Weg ihrer Eltern einschlagen.
Hier muss hingewiesen werden auf das Phänomen der demographischen Überalterung und den Rückgang der Geburtenrate, die besorgniserregende Schwellenwerte erreicht haben. Italien liegt mit einer Geburtenrate von 1,32 pro Frau an einer der ersten Stellen in einer sicherlich nicht wünschenswerten Vorrangstellung (Daten von 2018). Bulgarien, Lettland, Litauen, Rumänien wiesen von 1989 bis heute eine Bevölkerungsreduktion auf, die mehr als 20% betrug.
Drittes Bild: Die Mauern. Es ist paradox, dass das epochale Phänomen der Migration noch mit anachronistischen Waffen, die sich als wirkungslos gezeigt haben, angegangen wird.
Ein Demograph, der seit jeher aufmerksam das Thema der Migration betrachtet, Livi Bacci, hat bis 2016 72 Mauern gezählt (andere sind in Planung). Am Ende des Zweiten Weltkrieges gab es fünf Mauern. Nur seit 2000 wurden in Europa 1.084 Kilometern an Mauern errichtet, die längste davon wurde 2016 zwischen Ungarn und Kroatien errichtet – 300 km. Neue Mauern, die nicht aufgrund von Konflikten errichtet wurden, sondern nur um Migranten aufzuhalten.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, diese Völker in Bewegung darzustellen, zeigen sich uns andere Bilder: Es sind die Schnappschüsse, die die Ortswechsel jener Menschenmassen zeigen, die in den letzten Jahren von den zunehmend zerstörerischen Umweltkatastrophen zur Flucht gezwungen sind. Es sind mehr als 17,2 Millionen Menschen, die allein im Jahr 2018 ihren Wohnort verlassen mussten: der Zyklon in Mosambik, der Hurrikan in den USA, die Überschwemmungen in Asien, die Verschmutzung und zunehmende Desertifikation in weiten Teilen der Welt. Wenn sich nicht radikal die Umweltpolitik entsprechend ändert, so werden gemäß Berechnungen der Weltbank bis 2050 143 Millionen Menschen dazu gezwungen sein, aufgrund von Klimaänderungen zu migrieren, vor allem in Afrika, Lateinamerika und Asien.
Das letzte Beispiel ist das einer schönen griechischen Insel, Lesbos, die gegenüber der Türkei liegt und heute in Europa das Paradigma der Immigration darstellt. Auf Lesbos gibt es zwei große Flüchtlingslager mit bis zu 11.000 Personen (Ende August). Unter den Flüchtlingen finden sich viele sehr junge und Kinder. 40% der anwesenden Flüchtlinge sind minderjährig. Darunter sind über 1000 unbegleitete Minderjährige, die nicht auf die Hilfe einer erwachsenen Bezugsperson zählen können. Die Insel hat 100.000 Bewohner, von denen 30.000 in der Stadt Mitilene leben, in deren Nähe die Lager liegen. Ich kenne diese Orte, denn ich habe sie zum ersten Mal anlässlich der Reise des Papstes im April 2016 besucht. Nach jener Begegnung haben 21 Flüchtlinge Aufnahme in Rom gefunden.
Wir sind auf europäischem Boden, aber die Menschenrechte, die sich Europa auf die Fahnen schreibt, sind auf Lesbos fern. Die Lebensbedingungen in den Lagern sind sehr hart: eine Toilette für 80 Personen, Zelte und keine wirklichen Unterkünfte, Überbelegung, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, die mit den Erwachsenen zusammen leben. Endlose zermürbende Wartezeiten und Prozeduren, bis man Antwort auf den Asylantrag erhält.
Trotzdem stellt die junge und vitale Gegenwart der Flüchtlinge bereits eine andere Perspektive dar. Wir haben das in den Gesichtern der Kinder und Jugendlichen gesehen, die mit uns an den langen Tischen saßen, die wir diesen Sommer jeden Abend vor den Lagern in Moria gedeckt haben. Mehr als 150 Freiwillige der Gemeinschaft Sant’Egidio haben sich auf den Inseln Lesbos und Samos abgewechselt. Wir haben verschiedene Aktivitäten organisiert und über 7000 Flüchtlinge kennen gelernt. Beeindruckend ist auch die Anwesenheit einer Vielzahl von lebendigen und effizienten Hilfsangeboten. Viele versuchen, den Flüchtlingen zu helfen, wo sie nur können. Es sind zum Teil kleine, vereinzelte Aktivitäten, neu gegründete Vereinigungen, aber sie sind Vorboten.
Diese junge und vitale Präsenz von Flüchtlingen darf nicht nur ein Problem darstellen! Die kleine katholische Kirche von Mitilene füllt sich jeden Sonntag mit jungen afrikanischen Flüchtlingen und lebt das, was die ganze Kirche leben sollte: Sie soll diese Anwesenheit als Gelegenheit zur Öffnung und Chance für die Zukunft leben. Diese junge Präsenz, die trotz allem eine Zukunft zu haben wünscht und darum kämpft, kann nicht nur als Problem erachtet werden und bewirkt eine positive Transformation. Gerade in Lesbos dachte ich, dass möglicherweise der Abstieg Europas nicht unvermeidbar ist, dass Europa vielleicht wieder aufs Neue anziehend werden kann. Wenn wir versuchen würden, diese jungen Flüchtlinge aufzunehmen, würden vielleicht unsere Jungen keinen Grund mehr haben aus einer Wirklichkeit zu fliehen, die ihnen heute perspektivenlos zu sein scheint. 
Wir alle kennen die biblische Geschichte, wie der Vater Abraham die drei Fremden bei der Eiche von Mamre aufnahm. Das Buch Genesis berichtet: „Als er [Abraham] sie sah, lief er ihnen vom Eingang des Zeltes aus entgegen, warf sich zur Erde nieder und sagte (…) ich will einen Bissen Brot holen, dann könnt ihr euer Herz stärken, danach könnt mögt ihr weiterziehen; denn deshalb seid ihr doch bei eurem Knecht vorbeigekommen.“ Dies ist die Philoxenia, und dies war die Geste, die wir wiederholt haben, als wir vor den Zelten der Flüchtlingslager auf Lesbos und Samos den Tisch für hunderte Menschen vorbereitet und gedeckt haben.
Gastfreundschaft scheint ein naives Wort zu sein, dass nicht selten bittere Ironie hervorruft: „Man kann auf diese Weise nicht alle aufnehmen; es gibt Regeln; es gibt Dublin; man muss sekundäre Bewegungen vermeiden; es sind zu viele“ usw. Auf weltweiter Ebene spricht man von globalen Migrations- und Flüchtlingsabkommen, um sichere, geordnete und geregelte Migration zu garantieren.
Aber die Nachkommenschaft von Abraham und Sara, die zahlreich wie die Sterne am Himmel wurde, entsteht gerade aus dieser Verheißung, die in der Gastfreundschaft verborgen war.
 
Dies ist ein günstiger Moment für Europa, die Ängste zu überwinden, um Gesetze zu ändern und neue zu erstellen, was in den vergangenen drei Jahren bereits geschehen ist mit der Eröffnung der Humanitären Korridore in Italien, Frankreich, Belgien und Andorra. Bereits 2.666 Menschen sind unter sicheren Bedingungen angekommen, ohne Risiko des Menschenhandels oder des Todes im Meer. Für den, der gläubig ist, ist der Besuch der drei Fremden in Mamre ein göttlicher Besuch, reich an spiritueller Bedeutung, aber für alle enthält er eine wertvolle Wegweisung: Man darf keine Angst haben aufzunehmen.