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Olaf Scholz

Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland
 biografie

Sehr geehrter Herr Professor Riccardi,
sehr geehrter Herr Professor Impagliazzo,
Eminenzen,
Exzellenzen,
sehr geehrte Repräsentanten der Kirchen und Religionen,
meine Damen und Herren,

herzlich Willkommen in Deutschland ‑ oder vielmehr: Ein herzliches „Willkommen zurück“! Es freut und ehrt uns, dass Ihr Friedenstreffen nun bereits zum vierten Mal in Deutschland stattfindet. Sie sind hier nicht nur allzeit gern gesehene Gäste ‑ Sie sind auch zu Besuch bei Freunden.

Mit Ihrem Treffen in Berlin unterstreichen Sie die Verbundenheit zwischen Ihrer Gemeinschaft und einem Land ‑ Deutschland ‑, dessen eigener Weg zum Frieden gesäumt ist von furchtbaren Irrtümern, von imperialer und nationalistischer Verblendung, die Europa und die Welt zwei Mal in unvorstellbares Leid gestürzt hat. Und gerade deshalb ist Deutschland heute ein Land, das jedem aus tiefer Überzeugung die Hand reicht, der Frieden wagt.

Zu Beginn möchte ich Ihnen von einem Buch erzählen, das ich über den Sommer endlich lesen konnte und das mich seither beschäftigt. Einige von Ihnen kennen es sicherlich. Es stammt von dem amerikanischen Professor Graham Allison, der Titel lautet: „Destined to War“ ‑ zum Krieg verdammt.

Ausgehend vom antiken Gegensatz zwischen Sparta und dem aufsteigenden Athen beschäftigt Allison sich mit der sogenannten „Falle des Thukydides“, also mit der Annahme, dass der Aufstieg neuer Großmächte zwangsläufig in einen Krieg mit dem bisherigen Hegemon mündet. Dabei schwingt natürlich die aktuelle, äußerst beunruhigende Frage mit, ob Krieg in einer zunehmend multipolaren Welt wie der unsrigen am Ende unvermeidbar ist. Die rein statistische Antwort des Buches lautet: In zwölf der 16 untersuchten Fälle kam es in den zurückliegenden fünf Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte in solchen Konstellationen zum Krieg. Für den Pessimisten folgt daraus: Es steht schlecht um den Frieden ‑ nämlich 3:1 für den Krieg.

Sant’Egidio aber hat sich mit einer solchen Arithmetik niemals abgefunden. Im Gegenteil: Ihre ganze Bewegung gründet in der Absage an eine vermeintliche Logik des Kriegs. Sie setzen ihr die „audacity of peace“ entgegen, die Kühnheit des Friedens. Deshalb sind Sie heute hier. Deshalb bin auch ich heute sehr gerne gekommen, denn ich teile nicht nur Ihre Zuversicht, sondern auch Ihr Ziel: Frieden zu wagen.

Doch mit dieser Feststellung allein ist es in der Praxis nicht getan. Wir alle wissen das. Heute sehnt sich wohl niemand in Europa so sehr nach Frieden wie die Ukrainerinnen und Ukrainer. Jeden Tag verteidigen sie ihre Freiheit, ihre Heimat, ihr Leben gegen die imperialen, historisch verblendeten Machtfantasien des Herrschers im Kreml. Der Friedensplan, für den Präsident Selensky weltweit wirbt, bringt diese Friedenssehnsucht klar zum Ausdruck.

Und zugleich müssen wir uns vor Schein-Lösungen hüten, die „Frieden“ lediglich im Namen tragen. Frieden ohne Freiheit heißt Unterdrückung. Frieden ohne Gerechtigkeit nennt man Diktat.

Deshalb stehen wir voll und ganz hinter den Forderungen der Ukraine nach einem gerechten Frieden, der die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen respektiert und der die Prinzipien der territorialen Integrität und Unabhängigkeit achtet. Deshalb unterstützen wir die Ukrainerinnen und Ukrainer bei der Verteidigung ihrer Heimat.

Wir tun das auch, indem wir Waffen liefern. Diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen ‑ und wir machen sie uns nicht leicht. Gerade weil wir um die Wirkung der von uns gelieferten Waffen wissen, stimmen wir uns eng ab und prüfen immer wieder sehr genau, was in der gegenwärtigen Situation geboten und was verantwortlich ist.

Aber das ändert nichts an meiner Grundüberzeugung: Das Recht muss die Gewalt überwinden, nicht umgekehrt. Alles andere hieße, das Recht des Stärkeren anzuerkennen. Wohin dieser Weg führt, das haben uns Jahrhunderte kolonialer Ausbeutung und kriegerischer Zerstörung doch gelehrt.

Für mich folgt daraus: Wir werden die Ukraine in ihrem Recht auf Selbstverteidigung weiter unterstützen ‑ so lange wie nötig. Das halte ich nicht nur politisch und strategisch für erforderlich, sondern auch friedensethisch für geboten.

Der Deutschen Bischofkonferenz bin ich dankbar dafür, dass sie dies in ihrer Erklärung gleich nach Beginn des russischen Angriffskriegs ganz unmissverständlich klargestellt hat. „Der Aggression widerstehen ‑ den Frieden gewinnen“, so haben die Bischöfe ihre Erklärung überschrieben ‑ und zwar in dieser Reihenfolge. Weil das eine, nämlich die eigene Existenz gegen den Aggressor zu verteidigen, überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, dass eine unabhängige, freie Ukraine den Frieden zurückgewinnt und auch Russlands Führung zu echten Verhandlungen bereit ist.

Von dieser Realität muss unsere Suche nach Frieden ausgehen. Deshalb bin ich Ihnen dankbar, Herr Professor Riccardi, dass Sie neben der Hoffnung auf Frieden zugleich immer auch Realismus im Tun einfordern und die Arbeit von Sant’Egidio daran ausrichten.

Wenn in den jüdisch-christlichen Schriften davon die Rede ist, dass der Wolf beim Lamm Schutz findet, dass Kalb und Löwe zusammen weiden, dann ist das ja leider weder damals noch heute die Beschreibung unserer Wirklichkeit, sondern die Verheißung und Aufforderung, für eine andere, bessere, friedvollere Welt zu arbeiten.

Anders ausgedrückt: Wir dürfen zwar die Augen nicht davor verschließen, dass der Mensch des Menschen Wolf sein kann. Aber wir dürfen uns mit diesem Verdikt auch nicht abfinden. Zumal dieser berühmte Satz von Plautus noch einen zweiten Teil hat. Vollständig lautet er: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, zumindest solange man sich nicht kennt.

Damit bin ich wieder bei Sant’Egidio und dem Prinzip, das Ihre Gemeinschaft seit Ihrer Geburtsstunde im Jahr 1968 prägt. Sie setzen auf die friedensstiftende Kraft der Begegnung, des gegenseitigen Kennens und Erkennens, des Lernens voneinander. Es ist diese Kraft, die früher oder später zu der Erkenntnis führt, dass wir alle Menschen sind – ausgestattet mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde, egal, wo man geboren wurde, egal, ob oder woran man glaubt.

Diese Erkenntnis im Alltag durchzusetzen, ist die Aufgabe aller Staaten, die sich zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekannt haben. Zugleich, und das zeigt die erfolgreiche Arbeit von Sant’Egidio, liegt es in der Macht und in der Verantwortung von religiösen Führern wie Ihnen, diese Erkenntnis unserer gemeinsamen, verbindenden Humanität zu stärken, gerade weil im Namen der Religion nicht nur Frieden geschaffen, sondern eben auch Kriege geführt wurden und immer noch geführt werden, gerade weil Religion missbraucht wurde und missbraucht wird, um Frauen und Männern ihre Menschenrechte vorzuenthalten.

Umso bedeutender ist es, wenn Sie Ihre Stimmen gemeinsam für den Frieden und für gegenseitigen Respekt erheben, so wie Sie, Großimam al-Tayyeb, als Sie im Jahr 2019 gemeinsam mit Papst Franziskus erklärt haben, „dass die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern“ dürfen.

Diese Erkenntnis, dass nicht der Krieg heilig ist, sondern der Frieden, ist zum gemeinsamen Fundament Ihrer Arbeit geworden. Sie folgt dem Prinzip, dass derjenige, der Frieden will, den Frieden auch vorbereiten muss. Wie das geht, das hat Sant’Egidio rund um die Welt bewiesen,            etwa durch Ihre erfolgreiche Vermittlung im Bürgerkrieg in Mosambik, durch Unterstützung bei der Entwaffnung von Kämpfern in der Zentralafrikanischen Republik, durch Ihre Versöhnungsarbeit im Südsudan, zusammen mit Vertretern der anglikanischen Kirche. Diese Aufzählung ließe sich verlängern, und ich will Sie ausdrücklich ermutigen, Ihre humanitäre Arbeit in der Ukraine mit aller Kraft fortzusetzen. Dazu zählt Hilfe für Geflüchtete, dazu gehören Gespräche über den Austausch von Gefangenen. Oft sind es ja genau solche Fortschritte im Kleinen, die helfen, irgendwann den Boden für ein Ende der Gewalt und damit für einen gerechten Frieden zu schaffen.

Daran arbeiten auch wir. Zuletzt ist es der Ukraine mit unserer Unterstützung und der vieler anderer befreundeter Länder gelungen, wichtige Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas an einen Tisch zu bringen, darunter China, Indien, Ägypten, Saudi-Arabien und Brasilien. Gemeinsam arbeiten wir nun daran, die unterschiedlichen Elemente der ukrainischen Friedensformel und Grundsätze für eine Friedenslösung weiter voranzubringen. Das ist nicht einfach ‑ auch mit Blick auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen des russischen Krieges in der Welt -, und das kostet Mühe und Zeit, Zeit, die wir eigentlich nicht haben, weil Russland in der Ukraine unterdessen weiter bombardiert, foltert und tötet.

Doch so sehr die Zeit drängt – Papst Franziskus hat recht, wenn er die Arbeit für den Frieden als die „Arbeit geduldiger Handwerker“ bezeichnet. Das ist eine treffende Beschreibung, weil daraus die Erkenntnis spricht, dass Frieden nicht vom Himmel fällt, sondern das Produkt menschlicher Anstrengung ist, und dass der Weg zum Frieden vom Kleinen hin zum Großen führt. Handwerker des Friedens zu sein, das heißt, für gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Würde jeden Tag einzutreten. Der Weg beginnt dort, wo wir dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche überall auf der Welt gute Bildungschancen haben, wo wir ernsthaft und solidarisch gegen Armut und gegen die Folgen des menschengemachten Klimawandels kämpfen, wo wir Frauen und Männer bei uns aufnehmen, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit!

Zugleich müssen wir dafür sorgen, dass die Akzeptanz dafür in unseren Gesellschaften erhalten bleibt. Auch das gehört hierher, wenn wir Frieden als „gesellschaftlichen Frieden“ verstehen und wenn wir den großen Vereinfachern, den Schwarz-Weiß-Malern, den Angstmachern und den Populisten etwas entgegensetzen wollen.

Diesen Weg des Friedens sollten wir wagen zu gehen, und zwar in wachsender Gemeinsamkeit. Denn in einer Welt mit vielen neuen Kraftzentren, in Gesellschaften, die immer vielfältiger und individueller werden, müssen wir alle neu lernen, in gegenseitigem Respekt für unsere Unterschiede zusammenzuleben. Das gilt in der multipolaren Welt. Das gilt auch in einem Land wie Deutschland, in dem heute Menschen vieler verschiedener Religionen und Weltanschauungen zusammenleben. Hier nicht das Trennende zu suchen, sondern das Verbindende, nämlich die unantastbare Würde jeder und jedes Einzelnen, auch das bedeutet „Frieden zu wagen“. Was immer ich als deutscher Bundeskanzler dazu beitragen kann, das will ich gerne tun.

Für den unermüdlichen Einsatz, mit dem Sant’Egidio und Sie alle Frieden wagen, sage ich Ihnen allerdings heute von ganzem Herzen: Vielen Dank!

LINK zur Homepage des Bundeskanzlers mit dem gesprochenen Wort