10 September 2023 16:30 | Verti Music Hall

Rede von Zohra Sarabi



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Zohra Sarabi

Zeugin, Afghanistan
 biografie

Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde

 mein Name ist Zohra Sarabi, ich bin 18 Jahre alt und komme aus Afghanistan. Ich bin im Juli 2022 mit den Humanitären Korridoren von  Sant'Egidio nach Italien gekommen und lebe seit mehr als einem Jahr in Rom.

Ich war noch nicht geboren, als die Taliban 1996 zum ersten Mal mein Land eroberten. In Kabul hatte mit der Präsenz der westlichen Streitkräfte das Leben wieder begonnen. Es gab Probleme, aber zumindest gab es Hoffnung.

In diesen Jahren hatte ich das Glück, studieren und vor allem träumen zu können. Dann kehrte am 15. August 2021 die Dunkelheit zurück und alles änderte sich. 

Ich möchte Ihnen von meinem 15. August erzählen. Ich war mit meinen Klassenkameraden in der Schule, als die Lehrer uns mitteilten, dass die Taliban in der Stadt vorrückten. Der Albtraum, den wir nur aus Erzählungen kannten, wurde auch für uns Realität. Sie sagten uns, wir sollten 'sofort nach Hause gehen'. In jenen Tagen wollten alle fliehen. Es herrschte große Verwirrung, und jeder suchte nach jemandem im Westen, der ihn aus dem Land bringen konnte. Nach dem Bombenanschlag auf dem Flughafen von Kabul und der Jagd nach den Kollaborateuren beschleunigte sich die Situation. Auch für mich und meine Familie – wie für so viele andere - war das Leben in Gefahr, denn mein Vater arbeitete vor den Taliban für das Verteidigungsministerium. Er wurde als Feind betrachtet.  Wir verließen das Haus nicht mehr. Wir waren verzweifelt. 

 

Heute können Frauen in Afghanistan nicht nur nicht studieren, sie können ohne Männer nicht einmal allein das Haus verlassen: Sie können nicht arbeiten und ihre Familie ernähren, und die Armut nimmt täglich zu. Mädchen können sich nicht aussuchen, mit wem sie sich treffen oder Freunde haben wollen. Für sie ist das Leben umöglich geworden, denn es fehlt die Freiheit. Freiheit ist alles.

Die einzige Möglichkeit für Afghanen, nach Europa zu gelangen, besteht heute darin, in ein Nachbarland zu gehen.  Aber es ist sehr schwierig, ein Visum zu bekommen.

 

Ich musste schnell weg, ohne meinen Vater und meine Mutter: Es war zu gefährlich für meinen Vater, einen Pass zu beantragen. Sie hätten ihn erkannt. Mein Vater hat mich nicht gefragt: "Willst du gehen?", er sagte: "Du musst gehen“. Ich war sehr traurig. Er war auch traurig, aber er wollte mich retten. Manche Menschen in Europa denken, dass wir nur eine bessere Zukunft wollen: Wir wollen keine bessere Zukunft, wir wollen NUR eine ZUKUNFT.

Wir sind nach Pakistan. Es gibt Millionen von Afghanen in Pakistan und im Iran, die kein Geld, keine Arbeit und keine Schule haben. Sie warten. Sie warten auf jemanden, der sie mitnimmt. Dann war die Rede von einem humanitären Korridor. Unter den Flüchtlingen ist jede Nachricht ein Ansporn, sich auf das Morgen zu freuen. Im Mai 2022 hörte ich, dass Sant'Egidio in Islamabad angekommen war und uns interviewen wollte. Ich begann, mich besser zu fühlen.... wieder zu hoffen. Ich erinnere mich an den Tag, an dem die Gemeinschaft uns in einen Raum einlud, um uns zu kennen zu lernen.

Obwohl mir die Wartezeit lang vorkam, war ich nicht verzweifelt, denn innerlich dachte ich: 'Jemand will mich, jemand wartet auf mich'. Am 27. Juli reisten wir schließlich mit dem Humanitären Korridor nach Italien. Es war wie ein Fest. 217 Menschen, fast nur junge Leute und Kinder, die ihr Gepäck verladen und sich verabschieden. Ich werde mich immer an diesen Tag erinnern.

Jetzt kann ich mit allen reden und Freundschaften schließen, mit denen ich möchte. Ich mag Italien. Ich war auch oft in Fiumicino, um die Afghanen zu begrüßen, die nach mir mit den humanitären Korridoren ankamen. Die Begrüßung ist gut für das Herz derjenigen, die ihr Leid vergessen müssen, aber auch für das Herz derjenigen, die sie aufnehmen, denn gemeinsam bauen wir eine bessere Gesellschaft auf.  Zurück aus Berlin werde ich ein Studium beginnen. Ich möchte Kulturvermittlung studieren und anderen Einwanderern helfen. Das macht mich glücklich.

Zum Schluss möchte ich mich für die Gelegenheit bedanken, vor Ihnen allen, die Sie Religionen und Staaten vertreten, dieses Zeugnis über mein Land abzulegen, und ich möchte Sie alle bitten, Afghanistan, seine Kinder, Frauen, Jugendlichen, all diejenigen, die leiden, nicht zu vergessen, danke.