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David Rosen

Rabbiner, Sonderberater des Hauses der abrahamitischen Familie (AFH) von Abu Dhabi, Israel
 biografie
Ich glaube, es ist ein glücklicher Zufall, dass mir die Ehre zuteil wird genau zu Beginn des jüdischen Neujahrsfestes, Rosh HaShanah, an diesem Panel teilzunehmen. Genau genommen dient uns der ganze vorhergehende Monat der Vorbereitung für diese heiligen Tage im jüdischen Kalender und das Kernthema dieser Zeit wird im hebräischen Wort "teshuvah" zusammengefasst. Für gewöhnlich wird es als „Reue“ übersetzt, doch eigentlich hat es die Wurzel im hebräischen „shuv“, was „Umkehr“ bedeutet. Der Titel dieses runden Tisches, an dem ich ehrenvoller Weise teilnehmen darf, wurde von Seiten der Organisatoren aus christlicher Sichtweise heraus formuliert, wonach die Menschheit ein von Natur aus gegebenes Bedürfnis nach „Rettung“ hat. Ich glaube, dass die Mehrheit der Christen es dahingehend interpretiert, dass das menschliche Wesen nicht dazu fähig ist, sich selbst zu retten. Das Judentum hat jedoch nicht dieselbe Auffassung. Da ist die Ansicht folgendermaßen: Da die menschlichen Geschöpfe in “Abbild und Ähnlichkeit Gottes” geschaffen worden sind, wurden alle Menschen von Natur aus gut erschaffen. Zugleich wurden wir mit der Fähigkeit ausgestattet, zu unterscheiden und eine Wahl zu treffen. Die Entscheidungsfähigkeit bringt unweigerlich mit sich, dass wir hin und wieder Fehler begehen – oft unbewusst, manchmal aber auch mit Absicht. Meist sind die Fehler belanglos, manchmal aber sind sie schwerwiegend. Manche begehen diese Fehler oft, andere gelegentlich. Diese Fehler bezeichnen wir als “Sünde”, und sie entfernen uns sowohl von Gott als auch von seiner Güte und von unserer Ähnlichkeit mit Gott. Unterschiedliche Faktoren können uns zur Sünde führen, doch meist ist die Sünde die Folge der Schwäche (leicht lassen wir uns umlenken und auf unehrliche Wege bringen) und der Faulheit.
 
Das Judentum lehrt uns, dass wir erschaffen worden sind mit einer angeborenen Fähigkeit der Unterscheidung und somit mit einer angeborenen Fähigkeit, die Sünde zu überwinden, uns selbst zu korrigiern und zu Gott und zu seiner Güte und unserer Ähnlichkeit mit ihm zurückzukehren.
 
Die Liturgie in diesem Monat und insbesondere in den Festtagen – darunter vor allem die 10 Tage der Reue zwischen Rosh haShanah und Yom Kippur, dem Versöhnungstag – ist auf dieses Konzept hin ausgerichtet: über das vergangene Jahr nachzudenken, über unsere Verfehlungen (in Werken und unterlassenen Taten), über unsere ehrliche Reue für diese Sünden und über unser Vorhaben unser Verhalten zu bessern und ein weiteres Lebensjahr zu verdienen.
 
Der Lohn der Sünde ist der Tod, aber die ehrliche “teshuvah” zusammen mit dem Gebet und der Nächstenliebe – wie es im Gottesdienst dieser Festtage betont wird - “wehren die Befehle des Bösen ab”, d.h. sie “retten” uns und schenken uns die göttliche Gabe eines weiteren Lebensjahres.
 
Diese Verantwortung jedoch kann nicht nur persönlich getragen werden. Zunächst lehren uns unsere Weisen, dass unsere Bemühungen dahingehend unsere Sünden vor Gott, d.h. die persönlichen Übertretungen, aussühnen können, wir aber nicht die vollständige “teshuvah” erlangen können, bis wir gegenüber unseren Nächsten um Verzeihung für jegliche Sünden gebeten haben, die wir ihnen gegenüber angetan haben können. So kann es folglich ohne die soziale Sühne keine göttliche Abbuße und Befreiung, die “Rettung” unserer Seelen, geben. So wird das Konzept verstanden: dass wir eine kollektive Verantwortung haben, einer gegenüber dem anderen und vor unseren Gemeinschaften.
 
Wie nun leicht verständlich ist, gilt Rosh haShanah im Judentum als der Tag des göttlichen Gerichts. Er wird aber auch als der Moment angesehen, an dem die Welt erschaffen wurde, genauer gesagt das menschliche Wesen, an dem jede und jeder von uns als “Gottes Abbild” erschaffen wurde”.
 
Folglich betrachtet unsere Liturgie in diesen Tagen alle Menschenwesen,  jeweils für sich, als ob sie in diesem Moment vor dem himmlischen Gericht beurteilt werden würden und als ob darüber entschieden würde, den Wert und die Zukunft eines jeden zu bestimmen.
 
Diese Auffassungen bezeugen schon an sich die untrennbare Beziehung, die uns untereinander verbindet, und dass es unmöglich ist, wahrhaft von der Sünde gereinigt und “gerettet” zu werden, wenn wir nicht die Verantwortung auf uns nehmen, die wir füreinander tragen, und insbesondere die Verantwortung den Armen, den Bedürftigen und den Schwachen gegenüber.
 
Die Erlösung hat in der hebräischen Tradition natürlich einen besonderen nationalen Aspekt. Denn der göttliche Bund, der mit den Kindern Israels geschlossen wurde, steht auf besondere Weise mit dem Volk in Beziehung sowie mit dem Land des Bundes, dem verheißenen Land, dem Land Israel. Das Exil aus diesem Land hingegen wird in der Bibel folgendermaßen dargestellt – und so wurde es auch vom Volk gesehen: als Strafe Gottes für unsere Sünde. Die Bücher Levitikus und Deuteronomium jedoch betonen, dass der göttliche Bund ewig ist und Gott uns somit – so lange das Exil auch dauern mag - in seiner grenzenlosen Barmherzigkeit und in seinem Mitleid immer in das verheißene Land führen wird, um uns eine weitere Chance zu geben.
 
Doch auch in diesem Fall hängt unsere Fähigkeit gerettet zu werden von den Konsequenzen unserer Sünde, d.h. vom Exil, von unserem kollektiven Verhalten ab und insbesondere von unserer Sorge gegenüber dem Fremden, der Witwe, dem Waisen und dem Armen. In den Worten des Propheten Jesaja wird “Zion (nur) durch das Recht gerettet, / wer dort umkehrt, durch die Gerechtigkeit.”
 
Dies ist eine Botschaft für uns alle: Nur unser Bemühen und unser Einsatz zur Erlangung von Recht und Gerechtigkeit für alle, und insbesondere für die Bedürftigen und Fremden, können das Wohlergehen und Aufblühen unserer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit garantieren.