12 September 2023 09:30 | Humboldt Carrè

Rede von Sharon Rosen



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Sharon Rosen

Stiftung Global Religious Engagement for Common Ground, Israel
 biografie
Ich bin sehr froh, wieder an einem Treffen der Sant’Egidio-Familie teilnehmen zu können. Das letzte Mal haben wir uns vor der COVID-19-Pandemie gesehen– ich habe Sie, ich habe euch vermisst!
 
Als man mich gebeten hat, etwas zur Akzeptanz von Verletzlichkeit zu sagen, hielt ich zunächst kurz inne und fragte mich: Was bedeutet das eigentlich, Verletzlichkeit annehmen? Versuchen wir nicht, uns genau davor zu schützen? Ihr gegenüber widerstandsfähig zu sein? Warum in aller Welt sollten wir sie also annehmen wollen? Doch je mehr ich darüber nachdachte, wurde mir bewusst, wie sehr wir einer zerbrechlichen Welt leben – einer Welt, die von so vielen Konflikten, Spaltungen, Unsicherheiten, Ängsten und…selbstsüchtigen Interessen der Menschen zerrissen wird. Außerdem sind wir so stark voneinander abhängig - und der Klimawandel hat dafür gesorgt, dass wir diese Tatsache nicht weiter ignorieren können - dass die Zerbrechlichkeit unserer Leben und unseres Planeten als Ganzes uns ALLE negativ betrifft, auch wenn manche Menschen mehr gefährdet sind als andere.
 
Vor Kurzem habe ich erneut die interreligiöse Erklärung "Auf dem Weg zu einer globalen Ethik" gelesen, die Pfarrer Hans Küng verfasst und die 1993 dem 
 
Parlament der Weltreligionen vorgestellt wurde. Seine dramatischen und erschreckenden ersten Worte hallen selbst nach 30 Jahren noch nach.
 
„Die Welt leidet Todesqualen. Der Schmerz ist so allgegenwärtig und drängend, dass wir gezwungen sind, seine Erscheinungsformen zu benennen, damit die Tiefe dieses Schmerzes deutlich wird. 
Der Frieden entzieht sich uns ... der Planet wird zerstört ...
Die Nachbarn leben in Angst ... Frauen und Männer sind einander entfremdet ... Kinder sterben!“
 
Wie können wir - und wie können unsere Religionen - dazu beitragen, diese Zerbrechlichkeit zu mildern, die zur Zerstörung von uns selbst und unserem Planeten führt? Können ihre Folgen dadurch abgeschwächt werden, dass wir Verletzlichkeit annehmen?
 
Als Erstes sollten wir uns dessen mehr bewusst sein. Wir müssen die Verletzlichkeit, die unserem menschlichen Sein innewohnt, erkennen und akzeptieren. Der Mensch ist nicht allmächtig (auch wenn manche von uns glauben, sie seien es)! Wir sind nicht unfehlbar und unserem Verständnis und unserer Kontrolle über die Komplexität des Lebens sind Grenzen gesetzt. Verletzlichkeit anzunehmen bedeutet, demütig und mitfühlend zu sein und uns um andere zu kümmern. Denn wenn wir Verletzlichkeit annehmen, dann haben wir verinnerlicht, dass voneinander abhängig zu sein bedeutet, dass wir alle in einem Boot sitzen.
 
 
Verletzlichkeit anzunehmen fördert Empathie und die Bereitschaft, sich andere Standpunkte anzuhören, auch wenn sie unsere eigenen Überzeugungen in Frage stellen. Es bedeutet, gewaltfreie Lösungen zu finden, weil wir begreifen, dass mehr Konflikte nur zu...noch mehr Konflikten führen – und somit zu noch größeren Gefahren für uns und unseren Planeten.
 
Wenn wir uns anschauen, welche Rolle die Religionen dabei spielen können, wenn es darum geht, Verletzlichkeit anzunehmen, dann möchte ich gerne die vier wichtigsten vorschlagen, die wie ein Gegenmittel zur Zerbrechlichkeit der Welt wirken können – vorausgesetzt diese Rollen werden auf konstruktive und inklusive Weise gelebt.
 
1. Religion hält einen spirituellen Kompass bereit – eine moralische und ethische Leitlinie, die Werte wie Liebe, Mitgefühl und Frieden fördert; welche ein Verantwortungsgefühl füreinander und die gesamte Biosphäre stärken können von der das menschliche Wohlergehen abhängt.
 
2. Sie bietet ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit, das Beziehungen zwischen Menschen aufbaut, die sich an gemeinsamen Erfahrungen erfreuen; sie fördert den sozialen Zusammenhalt und die Widerstandsfähigkeit, insbesondere angesichts von Tragödien und Zerbrechlichkeit.
 
 
 
3. Sie hebt die Bedeutung von Frieden und Versöhnung hervor, indem sie sich auf gemeinsame Werte und religiöse Lehren konzentriert, die Trennungen überbrücken und Frieden - Salaam - Shalom - Shanti - in den Mittelpunkt ihrer spirituellen Botschaft stellt.
 
4. Und schließlich gibt sie unserem körperlichen und geistigen Leben Sinn und Zweck, indem sie uns moralische Orientierung bietet und Trost spendet, wenn wir vor persönlichen oder gesellschaftlichen Herausforderungen stehen.
 
In meiner eigenen Religion kann ich diese vier Grundsätze sehr gut wiederfinden.
 
Das Judentum betont das Grundprinzip des Pikuach Nefesh (ein Leben retten) und misst der Erhaltung des Lebens und der Anerkennung der Unantastbarkeit und der Würde jedes menschlichen Wesens den höchsten Wert bei. Es fordert von uns, alle Maßnahmen, die möglich sind, zu ergreifen, um Leid zu verhindern und nach Frieden zu streben. Wir sind aufgerufen, Schalom - Frieden - zu suchen und ihn zu leben. Erst wenn wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, wird uns geboten, uns durch Selbstverteidigung zu retten. Die Tora erinnert uns 36-mal daran, für den Fremden zu sorgen, denn auch wir waren Fremde - Sklaven - in Ägypten. Wir werden ständig aufgefordert, uns um die weniger vom Glück Begünstigten, die Witwen und Waisen zu kümmern. Und der zweite Absatz unseres Glaubensbekenntnisses, des Schma-Gebets, unterstreicht unsere 
 
Verpflichtung, uns moralisch richtig zu verhalten, denn sonst wird er (Gott) den Himmel zuschließen, es wird kein Regen fallen, der Acker wird keinen Ertrag bringen und ihr werdet unverzüglich aus dem prächtigen Land getilgt sein…“. Unser moralisches Verhalten ist untrennbar mit der Biosphäre im weiteren Sinne verbunden - wie wir zu unserem Nachteil feststellen müssen.
 
Das Pilgerfest Sukkot, das Laubhüttenfest, ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie die Annahme von Verletzlichkeit zur Bewusstseinsbildung beitragen kann. An diesem Fest verlassen wir unsere Häuser und leben in provisorischen Hütten, die den Elementen ausgesetzt sind (und allzu oft fällt dieser Feiertag im Herbst mit den ersten Regenfällen in Israel zusammen!), dadurch sollen wir uns daran erinnern, wie das jüdische Volk auf seinem Weg durch die Wüste von Ägypten nach Israel vor 3.000 Jahren von Gott abhängig war! Wir wiederholen diese Erfahrung in unserer Zeit, um uns daran zu erinnern, dass wir immer noch verletzlich und auf Gott angewiesen sind, wenn es um unser Obdach und unsere Sicherheit geht. Ein wirklich guter Weg, um Hochmut abzubauen!
 
Doch leider sind ALLE unsere Religionen, vor allem wenn sie von Macht getrieben sind, zugänglich für engstirnige, ausschließende, gewalttätige Interpretationen, die Spaltung und Intoleranz säen und die Welt für uns alle noch fragiler machen können. Der aufkeimende religiöse Nationalismus ist ein gutes Beispiel dafür - keine Religion ist dagegen immun, am wenigsten meine eigene.
 
 
Damit Religion als wirksames Gegenmittel in einer zerbrochenen Welt dienen kann, muss sie die Grundsätze der Inklusivität, des Respekts für Vielfalt und des Engagements für soziale Harmonie und Frieden verkörpern. Ich nehme diesbezüglich wahr, dass die Arbeit, die meine Organisation „Search for Common Ground“ in über 40 Ländern durchführt, sich tatsächlich der Verletzlichkeit annimmt, obwohl ich nicht auf die Idee gekommen wäre, es so zu definieren, bevor ich den Titel für diese Präsentation erhalten habe.
 
Lassen Sie mich nur ein Beispiel dafür nennen, wie wir dies umsetzen. Wir sind Teil eines Konsortiums mit dem Namen „Joint Initiative Strategic Religious Action (JISRA)“, das Partnerschaften mit 50 zivilgesellschaftlichen Organisationen in sieben Ländern - Äthiopien, Indonesien, Irak, Kenia, Mali, Nigeria und Uganda - umfasst, also in einigen wirklich sehr fragilen Ländern. Wir befinden uns gerade mitten in einem Fünfjahresprogramm, das dazu beiträgt, die Religions- und Glaubensfreiheit in diesen Ländern voranzubringen. Dabei wird besonders darauf achtet, die Rolle von Frauen und jungen Menschen bei der Festlegung einer Vision und der Lösungsfindung für die Förderung der Religions- und Glaubensfreiheit in ihren Gesellschaften zu stärken. Wir tun dies indem wir auf lokaler Ebene innerhalb und zwischen den Religionsgemeinschaften vermitteln, wobei wir schädliche Maßstäbe und Narrative ansprechen, die Gesellschaften spalten und indem wir die Verletzlichkeit, die wir wahrnehmen, annehmen, um die Bewusstseinsbildung, das Lernen und die Zusammenarbeit für gemeinsames Handeln zu fördern. Dieses Projekt hat wiederholt gezeigt, wie religiöse 
 
 
Traditionen in einer gemeinsamen Vision für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zusammenkommen können, wenn Respekt und Vertrauen füreinander aufgebaut werden. Einige Beispiele für bewährte JISRA-Methoden sind:
 
1. Lokale Partner aus verschiedenen Religionen in Nigeria haben bei der Schulung von Regierungsbeamten und kommunalen Führungspersonen zusammengearbeitet, um friedliche Wahlen Anfang dieses Jahres zu ermöglichen. Auch in Kenia trugen von JISRA-Partnern geschulte religiöse Akteure dazu bei, friedliche Wahlen im Jahr 2022 zu gewährleisten.
 
2. In Mali nahmen unsere lokalen JISRA-Partner und Akteure verschiedener Religionen an den Beratungsgesprächen zur Überarbeitung der Verfassung teil.
 
3. An der Basis haben sich christliche und muslimische junge Frauen und Männer in Nigeria gemeinsam bei den staatlichen Behörden für die Stromversorgung ihrer beiden Religionsgemeinschaften - der muslimischen und der christlichen - eingesetzt und sie auch erhalten. Dank dieser Stromversorgung haben sie mehr Beschäftigungsmöglichkeiten, was auch ihre wirtschaftliche Lage verbessert hat. Und es gibt noch viele andere Beispiele. 
 
 
 
Indem Verletzlichkeit angenommen wird, KÖNNEN Einzelne und Gemeinschaften die Welt heilen (Tikkun Olam, wie wir es im Judentum nennen). Das Schöne an diesem Ansatz ist, dass die Verletzlichkeit umso mehr verschwindet, je mehr wir sie annehmen. Wie bei der Liebe. Je mehr wir lieben, desto weniger Hass gibt es in unseren Leben.