11 September 2023 09:30 | Hilton Hotel

Rede von Bertram Meier



Deel Op

Bertram Meier

Katholiek bisschop, Duitsland
 biografie
Sehr geehrte Damen und Herren,
 
zum ersten Mal findet das internationale Friedenstreffen der Gemeinschaft Sant’Egidio in Berlin statt. Von dem Treffen geht ein klares Signal aus: Die Religionen können und müssen Triebfedern des Friedens sein. Doch wie soll das gehen in Zeiten tiefgreifender humanitärer Krisen?
 
Wer mit nüchternem Blick auf unsere Welt schaut, kommt rasch zu dem Schluss, dass wir im Modus der „Dauerkrise“ leben. Nicht wenige haben das Gefühl, die Welt sei in einer Abwärtsspirale, empfinden vielleicht sogar eine apokalyptische Endzeitstimmung. Vielfach scheint es, dass nicht nur einfach Krise auf Krise folgt, sondern sich die Krisen überlappen und gegenseitig verstärken. Finanzkrise, Eurokrise, Migrationskrise, Corona-Krise, ökologische Krise, Demokratie-Krise, Krise der internationalen Ordnung – diese Schlagwörter veranschaulichen, weshalb manche von einem Zeitalter der „Polykrisen“ sprechen. Gerade am Beispiel der ökologischen Krise – der dramatische Klimawandel, das Artensterben und unser Raubbau an den natürlichen Ressourcen – lässt sich die Dauerhaftigkeit und Vielschichtigkeit heutiger Krisenphänomene veranschaulichen. Schauen wir darüber hinaus in die Ukraine, blicken wir nach China, schauen wir in den Südsudan, dann wird klar: Wir leben in einer Zeit, in der unsere bisherige Weltordnung – einschließlich des Völkerrechts und der Menschenrechte – massiv in Frage gestellt wird. Stehen wir gar an der Schwelle zu einem Zeitalter der Welt-Unordnung?
 
Der Blick auf Deutschland und andere Staaten der Europäischen Union wird da kaum wie ein Beruhigungsmittel wirken. Denn auch hier greifen Populismus, Fremdenhass, antidemokratische Tendenzen und Nationalismus in besorgniserregender Weise um sich. Bisweilen werden sogar Parallelen zwischen den 1920-ern des letzten Jahrhunderts und den heutigen 20er-Jahren gezogen. Jedenfalls kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass so manche historische Lektion in Vergessenheit gerät. Sehr präzise hat dies Papst Franziskus beschrieben: „Jahrzehntelang schien es, dass die Welt aus so vielen Kriegen und Katastrophen gelernt hätte und sich langsam auf verschiedene Formen der Integration hinbewegen würde. […] Doch die Geschichte liefert Indizien für einen Rückschritt. Unzeitgemäße Konflikte brechen aus, die man überwunden glaubte. Verbohrte, übertriebene, wütende und aggressive Nationalismen leben wieder auf. In verschiedenen Ländern geht eine von gewissen Ideologien durchdrungene Idee des Volkes und der Nation mit neuen Formen des Egoismus und des Verlusts des Sozialempfindens einher, die hinter einer vermeintlichen Verteidigung der nationalen Interessen versteckt werden.“ (Fratelli tutti, Nr. 10 und 11)
 
Wenn wir daher von „humanitären“ Krisen unserer Zeit reden, sollten wir stets bedenken, dass das humanum zwei Sinnrichtungen hat: Zunächst einmal sind es Krisen, die Menschen betreffen – und zwar in besonderer Weise die Armen, die an den Rand Gedrängten. Aber nicht selten handelt es sich zusätzlich auch um „menschengemachte“ Krisen: Um Leid, das die einen den anderen hinzufügen – ob aus Egoismus, Angst oder Fanatismus, einem Mangel an Hoffnung und Liebe. Ich möchte damit die strukturellen Ursachen vieler Krisen nicht kleinreden; aber wir sollten diese auch nicht als Ausreden benutzen, um uns vorschnell von Schuld freizusprechen.
 
Was kann ich nun als Bischof zu den Krisen unserer Zeit sagen? Statt in den Gefilden der Sozialwissenschaftler und Sicherheitsexperten zu wildern, möchte ich Ihnen – kurz und knapp – einige vom christlichen Glauben geprägte Überlegungen vorstellen: 
 
1. Trotz aller Krisen, ja Katastrophen: Christen leben aus der frohen Botschaft heraus. In Jesus Christus ist das Reich Gottes auf dieser Welt angebrochen. Es wird auf dieser Erde niemals vollendet sein, aber das Reich Gottes ist schon da. Wer in der Christus-Nachfolge lebt, der erfährt: Nicht die Finsternis, sondern das Licht setzt sich durch. Deshalb tritt für Christen Hoffnung an die Stelle von Resignation.
 
2. Die Hoffnung, aus der wir leben, sollte jedoch keine abwartende, sondern eine aktive sein. Jesus selbst macht uns zu Mitwirkenden, sendet uns aus, „das Reich Gottes zu verkünden und die Kranken gesund zu machen“ (Lk 9,2). Weltflucht ist für Christen keine Option! Stattdessen geht es um ein ernsthaftes Annehmen dieser Welt mit all ihren Problemen – in der Zuversicht, dass Gott uns vor dem Bösen bewahrt (vgl. Joh 17,15). Es ist daher unsere Aufgabe, in der Welt zu sein, uns engagiert einzubringen und dem Gemeinwohl zu dienen.
 
3. Wie ich eben dargelegt habe, sind viele unserer Krisen menschengemacht. Solange also Gier, Egoismus und Hass in den Herzen der Menschen sind, werden wir weiter in Unfrieden und Krisen leben – trotz aller strukturellen Bemühungen, den Frieden zu sichern und Krisen zu bewältigen. Die jesuanische Grundbotschaft „Kehrt um!“ hat darum nichts von ihrer Aktualität verloren. Tag für Tag sollten wir – für uns und für alle Menschen – darum bitten, dass der Herr so in den Menschen wirkt, wie es biblisch verheißen ist: „Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ (Ez 36,26)
 
4. All dies macht deutlich, dass die Krisen unserer Welt nur dann bewältigt werden können, wenn es tatkräftige und hoffnungsvolle Menschen gibt: Menschen, die gegen kleine und große Ungerechtigkeiten aufstehen; die für die Menschenrechte eintreten; die Not- und Katastrophenhilfe leisten; die Dialog und Begegnung ermöglichen; Menschen, die den Frieden wagen – so wie es das Motto dieser Versammlung ist.
 
Dem interreligiösen Dialog kommt bei alledem eine wichtige Rolle zu. Schon Papst Paul VI. spornte die Christen in seiner Antrittsenzyklika Ecclesiam Suam an, zusammen mit Menschen anderen Glaubens das Ideal der „menschlichen Brüderlichkeit“ zu verteidigen (Ecclesiam Suam, Nr. 112). Für Papst Franziskus wiederum ist die Rede von der „Geschwisterlichkeit aller Menschen“ gewissermaßen zu einem Leitmotiv geworden – seine beiden Sozialenzykliken Laudato si’ und Fratelli tutti bezeugen es. Immer wieder erinnert er die Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen daran, dass sie einander als Geschwister verbunden sind: Kinder des einen Schöpfers, verantwortlich für die Sorge um das gemeinsame Haus. Und eindringlich bittet er den Schöpfer darum, dass er den „Geist der Geschwisterlichkeit“ in die Herzen der Menschen eingießen möge; nur so wird es gelingen, eine „menschenwürdigere Welt ohne Hunger und Armut, ohne Gewalt und Krieg“ aufzubauen (vgl. das Gebet zum Schöpfer aus Fratelli tutti). 
 
Der Glaube ermutigt und befähigt uns zu einem Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden. Dies sollte uns Auftrag und Verpflichtung sein, gerade in Zeiten der Krise.